Loderne Glut
zierliche Figur. So grobschlächtig und gewichtig sich Mrs. Gunston präsentierte, so schlank und zerbrechlich wirkte Amanda, aber Mrs. Gunston empfand nur eine Art von verächtlichem Zorn für Amandas Anmut, weil sie die Zartheit mit Schwäche gleichsetzte.
»Hier ist Ihr Stundenplan«, verkündete Mrs. Gunston und knallte ein Stück Papier auf den Tisch unter dem Westfenster. »Und Sie haben das —« sie zog ein zweites Papier, das sie aus einer ihrer zahllosen Taschen hervorgekramt hatte, flüchtig zu Rate - »vieux rose Kleid mit den Schulterspitzen zu tragen. Sie wissen, welches das ist?«
»Ja«, erwiderte Amanda leise, »ich weiß es.«
»Gut«, brummte Mrs. Gunston schroff, als hätte Amanda damit eine große Leistung vollbracht. »Punkt acht gibt es Frühstück, zu dem Sie Mr. Driscoll erwartet.« Nach diesen Worten verließ Mrs. Gunston das Zimmer.
Sobald sich die Tür hinter Mrs. Gunston geschlossen hatte, streckte sich Amanda und gähnte, unterbrach sich jedoch abrupt und blickte sich schuldbewußt um, als hätte sie jemand dabei beobachtet. Weder ihr Vater noch ihr Verlobter, Taylor Driscoll, konnten es leiden, wenn jemand gähnte. Doch Amanda hatte nicht viel Zeit zum Überlegen, ob Gähnen und Sich-Strecken einen Tadel verdienten.
Mit unbewußt anmutigen Bewegungen eilte sie durchs Zimmer, um ihren Stundenplan zu prüfen. Jeden Abend erstellte Taylor eine neue Liste von Kursen für sie; denn Taylor sollte nicht nur ihr Gatte werden — er war auch ihr Lehrer. Amandas Vater hatte ihn Vorjahren, als sie gerade vierzehn war, angestellt mit der erklärten Absicht, sie mit Hilfe von Taylors Unterweisung zu einer Lady zu erziehen. Als Amanda zwanzig wurde und Taylor sie für gebildet genug hielt, sie als »Gentlewoman« zu bezeichnen, hatte er ihren Vater gefragt, ob er sie heiraten dürfe, sobald er ihr genügend beigebracht habe, daß sie seine Frau sein könne.
Amandas Vater, J. Harker Caulden, war entzückt gewesen und hatte den Antrag ohne irgendwelche Einwände angenommen. Niemand hatte es für nötig befunden, Amanda in so einer wichtigen Angelegenheit zu fragen. Eines Abends hatte Taylor beim Dinner ein anregendes Gespräch über den Einfluß der Barockkunst auf die Gegenwart unterbrochen, um ihr mitzuteilen, daß sie heiraten würden. Zuerst hatte sie nicht gewußt, was sie dazu sagen sollte. J. Harker hatte ihr mit einem Anflug von Verdrossenheit erklärt, daß sie nun mit Taylor verlobt sei. Taylor hatte gelächelt und gesagt: »Wenn du mit der Heirat einverstanden bist, heißt das.«
J. Harker war entsetzt gewesen über das Ansinnen, daß man einer Frau ein Mitspracherecht einräumte. »Natürlich ist sie damit einverstanden!« hatte er gebrüllt.
Amandas Wangen waren errötet, sie hatte ihre Hände verkrampft und den Blick gesenkt, als sie leise »ja« flüsterte.
Taylor heiraten ! hatte sie den Rest des Dinners hindurch gedacht - diesen schlanken, großen hübschen Mann, der alles wußte; der ihr Lehrer und Mentor gewesen war seit ihrer Jungmädchenzeit, zu heiraten war ein Traum, den sie niemals bis zu ihrem Bewußtsein hatte Vordringen lassen. Nach dem Dinner hatte sie Kopfschmerzen vorgeschützt und war auf ihr Zimmer gegangen. Sie hatte nicht mehr das ärgerliche Murren ihres Vaters gehört: »Genau wie ihre Mutter«; denn Grace Caulden verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens damit, allein in ihrem kleinen Salon im Obergeschoß auf dem Sofa zu liegen.
Amanda hatte in jener Nacht nicht schlafen können und am nächsten Tag einen schlechten Aufsatz über die französische Politik Karls I. geschrieben. Berechtigterweise hatte Taylor sie deshalb sehr getadelt, und Amanda hatte geschworen, sich der großen Ehre, seine Frau sein zu dürfen, bewußter zu werden. Sie wollte arbeiten und studieren und alles, was sie nur konnte, lernen, und eines Tages mochte sie dann seiner würdig sein. Natürlich würde sie niemals auch nur halb soviel vom Leben und der Welt, wie sie wirklich war, wissen wie er; aber schließlich mußte eine Frau ja auch nicht so klug sein wie ein Mann. Sie wollte nichts anderes tun als Taylor Freude machen und ihm eine so gute Frau sein, wie sie nur irgend konnte.
Sie nahm ihren Stundenplan in die Hand. Wieder durchrann sie ein kleiner Schauer der Dankbarkeit, als sie die Liste in Taylors sauberer, kleiner Handschrift sah. Jeden Abend nahm er sich die Zeit, ihr Curriculum selbst niederzuschreiben, obwohl er doch wahrhaftig genug damit zu tun hatte, die
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