Löwenherz. Im Auftrag des Königs
niedrig war der Türsturz in einer der Giebelseiten. Die Fenster – eines direkt neben der Tür, eines in der Giebelseite gegenüber – waren nichts weiter als Mauerlöcher. Man konnte kleine Läden hineinklemmen, um auch noch den letzten Rest Tageslicht auszusperren. Die einzige weitere Öffnung war das Rauchabzugsloch im Dach. Den Bewohnern schienen Dunkelheit und beißender Rauchgeruch nichts auszumachen. Die Bewohner, das waren Brida, die alte Wahrsagerin, ein halbes Dutzend Hühner, drei Ziegen und der zahme, mittlerweile halb erblindete Fuchs, der selbst in diesen heißen Sommertagen die Wärme des Feuers noch mehr zu brauchen schien als die alte Frau.
Die Hütte stand in einem losen Verbund anderer Gebäude. Ein lückenhafter Zaun von vielerlei Machart – vom Krüppelholzhaufen bis zum kunstvollen Weidengeflecht – zog sich um das Dorf herum. Überall sah es ähnlich aus wie bei Brida. Dies waren keine Behausungen, in denen die Menschen länger als nötig verweilten. Das Leben spielte sich draußen ab, auf den Feldern, die man bestellte, auf den Weiden bei Schweinen, Ziegen und Schafen, im Wald, wo man Holz suchte und Beeren sammelte. In Hütten und Häusern hielt man sich nur zum Schlafen auf oder wenn es draußen zum Essen zu kalt war … oder – wie im Fall der alten Brida – wenn die Tochter des Lords kam und um eine Prophezeiung bat. Die alten Riten galten als unchristlich, deshalb vollzog man sie besser in den eigenen vier Wänden als in der Öffentlichkeit.
»Was sagen die Knochen?«, hörte Edith sich flüstern.
»Mylady de Kyme?«, krächzte Brida.
»Du hast mich schon verstanden«, sagte Edith. Es kostete sie Kraft, die Frage zu wiederholen. »Was sagen die Knochen?«
»Ach, Kindchen«, murmelte die Alte. »Ach, mein armes Kindchen!«
Das Dorf, in dem Brida lebte, gehörte Sir Harold Stewart. Harold Stewart war der Verwalter und älteste Freund von Lord Wilfrid de Kyme, Ediths Vater. Wahrscheinlich hätte Sir Harold etwas dagegen gehabt, wenn er gewusst hätte, dass Edith hier war, aber er wusste es nicht und würde es auch nie erfahren. Die Bauern würden nichts verraten, sie wussten, dass es besser war, sich nicht in die Angelegenheiten der Herrschaft einzumischen. Brida würde gewiss den Mund halten, weil Sir Harold heidnischen Zauber missbilligte, auch wenn er nichts gegen ihn unternahm. Und Ediths Magd würde nichts verraten, weil sie eben Ediths Magd war.
Sir Harold Stewarts eigene Ländereien lagen am Südrand von Kyme. Lord Wilfrid hatte sie ihm übereignet, denn ein Verwalter musste eigenen Besitz haben. Durch solche Schenkungen war er seinem Herrn verpflichtet. Kyme selbst lag in der Grafschaft Yorkshire im Nordosten Englands, einem Teil des größten und mächtigsten Königreichs der gesamten Christenheit. Es erstreckte sich von der Mittelmeerküste im Süden Frankreichs bis zur schottischen Grenze im Norden Englands. Der alte König Henri Plantagenet hatte es geschaffen und jetzt, nach seinem Tod, wartete es auf einen neuen Herrn.
Auch Kyme wartete auf seinen Herrn. In einem Land, in dem nun überall die Normannen das Sagen hatten, war dieser Fleck etwas Besonderes: Burg und Ländereien gehörten noch immer einer angelsächsischen Familie, also Menschen, die schon vor den Normannen in England gelebt hatten. Sie hassten die Eroberer, die ihnen den Besitz genommen hatten. Deshalb war eines klar: Edith de Kyme wünschte sich keinen neuen Herrn, sondern die Rückkehr des alten.
Sie räusperte sich. »Brida«, begann sie, »selbst wenn die Knochen dir das allerschrecklichste Unheil offenbart haben: Ich muss es wissen. Mein Vater, Lord Wilfrid, ist seit einem Jahr im Heiligen Land verschollen. Meine Mutter will ihn für tot erklären lassen, damit sie ihren Liebhaber heiraten und als neuen Herrn auf Kyme einsetzen kann. Er ist ein Normanne, Brida! Ich will keinen Normannen als Herrn von Kyme. Ich will auch keinen neuen Vater. Ich will, dass mein eigener Vater zurückkehrt. Sag mir, was du gesehen hast, Brida!« Erst als die Ziegen im hinteren Teil der Hütte scheuten und der alte Fuchs im Schlaf zusammenzuckte, merkte Edith, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte.
»Kindchen«, sagte Brida, »die Knochen erfüllen keine Wünsche. Sie sagen nur, ob Eure Wünsche in Erfüllung gehen oder nicht.«
Edith war, als hielten die trüben Augen der Alten ihren Blick fest, und plötzlich stiegen Bilder aus der Vergangenheit in ihr auf. Edith sah ihren Vater, Lord Wilfrid,
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