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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Wege, nicht einmal er selbst. Obwohl er, in verspätetem Trotz, alles tat, was das Reglement verboten hatte – zum unehrenhaften Abgang reichte es ihm nie. Wohin hätte er aber auch gehen sollen? Ins Freudenhaus, wo er sich einmal wochenlang versteckt hatte? Aber der anonyme Zarensohn trug das Kainszeichen: ihm konnte nichts passieren. Natürlich war das eine furchtbare Täuschung. Hinter jeder Ecke konnte ein bezahlter Mörder lauern, um das ungeliebte Corpus delicti aus der Welt zu schaffen. Aus lauter Todesangst hatte erendlich selbst nachzuhelfen versucht. Aber auch dafür war er zu feige.
    Golownin, erschüttert und peinlich berührt, wollte wissen, wo Kolja die Vorgeschichte seiner Geburt erfahren habe; seine Mutter konnte sie ihm ja nicht erzählt haben. Da erfuhr er, daß es in Rußland eine Kommission gebe, die von Staates wegen
alle
außerehelichen Beziehungen registrierte. Nikolai hatte dem Sekretär ihres Archivs die Spielschulden bezahlt, nachdem dieser im Suff eine Andeutung hatte fallenlassen, und danach – unter dem Siegel größter Verschwiegenheit – alles Nötige erfahren, denn auch über Seitensprünge der Majestäten wurde peinlich Buch geführt. Das Archiv war gewissermaßen der Giftschrank der Macht, an dem sie sich gern bediente, bis sie über ein unappetitliches Geheimnis stolperte. Dieses Amt verkaufte seine Sittsamkeit teuer und bewies jedenfalls die Macht, Kolja Chlebnikows Seele bis ins Mark zu zerstören. Danach kannte er nur noch zweierlei Glück: den Tod – und das Roulette.
    Zu spielen konnte er nicht aufhören, dann da verfolgte ihn eine Fratze des Glücks: Fortüne. Es spottete aller Wahrscheinlichkeit, wie er gewann, und dieser Spielgewinn ließ, als Ersatz, sein Leid auch noch lächerlich oder müßig aussehen; damit wurde es unheilbar.
    Die Szene in der Wärmkammer war trostlos; aber Trost war auch nicht gefragt. Golownin erinnerte sich, eine Sprache gebraucht zu haben, die ihn selbst befremdete. Er hatte gesagt: für mich bleibst du der Sohn eines Zimmermanns. Das sind schon ganz andere gewesen!
    Und als ihn der Kamerad entgeistert ansah, war er fortgefahren: Von ihm hast du deine technische Ader. Du bist der beste Mathematiker der Klasse. Und seit heute weiß ich auch, daß du
reden
kannst.
    Chlebnikow glaubte ihm kein Wort, das konnte er sehen. Da hatte er noch mehr gesagt: eines Tages segle ich um die Welt, Kolja, und du fährst mit, kein anderer.
    Das war eine hinreichend entfernte Aussicht, und doch flackerte ein Irrlicht von Hoffnung über Koljas gepeinigtes Gesicht.
    Das würdest du tun?
    Das
werde
ich tun, so wahr ich hier sitze, hatte Golownin gesagt. Aber auf dem Schiff, das ich kommandiere, wird nicht gespielt.
    Chlebnikow war nach Portsmouth kommandiert worden, obwohl er nicht, wie seine Kameraden, zur
Garde Équipage
gehörte. Der neue Zar wünschte sich den unregelmäßigen Halbbruder vom Leibe zu halten, und dieser versuchte sein Glück auch im
Unicorn
weiter – mit Erfolg. Bei Licht besehen, konnte sich Golownin auf seinem Schiff keinen Offizier weniger wünschen als Chlebnikow – ausgenommen vielleicht
Herrn
Moor. Aber Golownin betrachtete nicht alles bei Licht oder vertraute auf sein eigenes. Auch in ihm steckte einer, dem es gefiel, das Schicksal herauszufordern – nur hätte er sich darum noch keinen Spieler genannt. Denn Glück und Bestimmung sind zweierlei.
    3 Bei Tageslicht hätte man durch die Fenster des
Unicorn
die Masten der Schiffe sehen müssen, die an der Kriegsreede gerüstet wurden. Golownin und Rikord hatten diejenigen, denen sie zugeteilt waren, noch nie betreten dürfen. Im
Foreign Correspondents’ Club
waren Russen unter sich, die Zeitungsleser kamen und gingen; Moor malte beharrlich, offenbar nach dem Gedächtnis oder Vorlagen, die er am Tage gesammelt hatte. Unbekannt war nur der Buchleser in der entfernten Ecke, der sich am Vortag erstmals gezeigt hatte. Es war ein blasser junger Mensch mit weißblonder Mähne, dessen Räuberzivil aus Uniformteilen meist russischer Herkunft bestand. Vorgestellt hatte er sich nicht, doch für einen Spitzel war er zu auffällig.
    Vom nahen Kirchturm hatte es gerade zehn geschlagen, als sich zwei Neue zeigten. Sie unterhielten sich an der Bar auf russisch, ihre Uniform deutete darauf, daß sie bei der Russisch-Amerikanischen Compagnie dienten. Golownin hatte seine Pfeife des Tages angesteckt, die er bereits gestopft mitgebracht hatte, und setzte sie mit dem Fidibus einer Schneiderrechnung in Brand. Da

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