Loewenstern
entwickeln, dachte ich daran, meinem Seeoffizier, der Japan gesucht und verpaßt hatte, eine Klausur in der Gryllenburg zu verschreiben, wollte ihn nachsitzen lassen bei Tinte und Papier. So mußte er wohl oder übel in eine Lage geraten, in der wir einander etwas zu sagen hatten. Denn Erzählen, sich Erinnern, was gewesen sein könnte, ist die Kunst, sich von Verlusten plastisch Rechenschaft zu geben und Absenzen jene Gegenwartsform abzugewinnen, die man literarisch nennt.
Um eine passende Form dieses Stoffes hatte ich viele Monate gekämpft, in denen mir nicht ganz nebenbei die Grenzen meiner Gesundheit gezeigt wurden. Nach einer Operation wollte ich als erstes die Gegend mit Augen sehen, die Golownins unfreiwilliger Aufenthalt gewesen war. 1811 war er mit seinen Mitgefangenen von der Kurileninsel Kunashiri nach Hokkaido, damals Ezo genannt, überführt worden, dann über Hakodate, ihren größten Hafen, in die Provinzhauptstadt Matsumai, das administrative und militärische Zentrum für die Kolonisation der neuen Nordgebiete. Als wir fast genau zweihundert Jahre später einen Flug nach Japan buchten, um Verwandte zu besuchen und in Hokkaido zu recherchieren, hatten wir keine größere Sorge, als an der «Golden Week» vorbeizukommen, Urlaubstagen, an denen das ganze Land unterwegs ist, und reservierten ein Zimmer im einzigen Hotel von Matsumae noch vor der Kirschblütenzeit: in Hokkaido würde sie am längsten auf sich warten lassen. Am 4. April wollten wir reisen.
Dann kam etwas dazwischen.
3
Am 11. März 2011 wurde Japan von einem Seebeben der Stärke über 9 erschüttert. Es löste an der pazifischen Nordküste der Hauptinsel einen Tsunami aus, der sie, aller Befestigungen spottend, einigehundert Kilometer breit überflutete und ihre Besiedlung, dicht wie überall im knappen Flachland der Inseln, in einen endlosen Trümmerzug verwandelte und in ein Massengrab für zwanzigtausend Menschen, die unter ihren Häusern verschüttet oder ins Meer gerissen wurden. Das ungeheure Ereignis flog mit flatternden Bildern in die übrige Welt, denen anzusehen war, daß diejenigen, die sie einfingen, fürchten mußten, im nächsten Augenblick selbst weggespült zu werden. Als auf der andern Seite des Globus noch Tageslicht herrschte, starrte man fernsehend auf eine surreale, immer wieder von Lautsprecherwarnungen, Not- und Hilfeschreien zerrissene Szenerie, in der Schiffe auf Hausdächern gestrandet waren, während ganze Dörfer wie Herden ins offene Meer hinausschwammen. Man sah zu, wie Menschengruppen auf der Flucht überrollt wurden, von einer graubraunen Flut, die mit treibendem Fahrzeug die Gassen verstopfte, dann in breiter Front ins Landesinnere vorrückte und Kolonien von Treibhäusern scheinbar gemächlich flachlegte. Nach Einbruch der Dämmerung waren, aus Hubschrauberhöhe, nur noch lautlose Nester von Funken zu sehen, eine bis zum Horizont hingezogene Kette von Brandzeichen, die in höllischer Festlichkeit die ganze Nacht vor sich hin glommen. Man konnte nur ahnen, ohne es zu fassen: die Arbeit vieler Generationen, von der Flut kurz und klein geschlagen, fackelte jetzt ab wie Müll, der mit Treibstoff übergossen wird.
Nach der sichtbaren Katastrophe schlich sich eine ganz andere ins Bild und fixierte sich auf den Umriß einer nebelhaften, wie im Leeren hängenden Industrieanlage, die etwas widersinnig Sakrales hatte wie eine zerrüttete Kathedrale. Aus weiter Distanz, die das spezielle Objekt gebot, ließ sich der Fortschritt der Zerstörung nur erraten; noch weniger konnte man absehen, was er zu bedeuten hatte. Die Naturgewalt hatte auch die Tresore der Kernenergie leckgeschlagen und ihre obligatorische Kühlung gelähmt; nun begann das Werk, zu strahlen und die gefesselte Energie austreten zu lassen, selbsttätig, unkontrollierbar. Explosionen hatten die Büchse der Pandora noch weiter geöffnet. Über Nacht wurde
Fukushima Daiichi
zum Inbegriff für alles, was die globale Zivilisation, außer einem atomaren Weltkrieg, am meisten gefürchtet, seit Tschernobyl lieber nicht mehr berührt und mit Vergessen bedeckt hatte. Aber nun hatte die Krypta das Siegel ihrer Verschwiegenheit gebrochen; sie lag offen, und niemand sollte ihr nahekommen. Die dennoch dazu verurteilt wurden, von den ratlosen Betreibern der Anlage, umgab die Aura des Menschenopfers. Aber es waren keine Kamikaze-Kämpfer,sondern Leiharbeiter,
nuclear gypsies
, von der
Tokyo Electric Power Company
dafür (schlecht) bezahlt, daß sie in weißer
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