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Lohn des Todes

Titel: Lohn des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Renk
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Zigarette an, zog tief, behielt mich im Blick.
    »Ja.«
    »Ganz sicher?« Er beugte sich über mich, zog meinen Pullover hoch, das Unterhemd, drückte die Zigarette im weichen Fleisch
     meines Bauches aus. Zuerst brannte es nur, dann durchzuckte mich der Schmerz. Unwillkürlich wollte ich darüberreiben, aber
     meine Hände waren gefesselt. Ich riss an den Ketten, stöhnte auf, hatte immer noch nicht genug Kraft, um |253| zu schreien. An der Peripherie meines Blickfeldes wurde es wieder dunkel.
    »Ja, ganz sicher«, wimmerte ich.
    »Was macht der Mann?«
    »Ich vermute, er schaut nach den Akten«, presste ich hervor. »Gibt es Akten?«
    »In der Tat, die gibt es.«
    »Im Haus?«
    »Ja.«
    »Wer sind Sie?«
    »Das weißt du wirklich nicht?« Er sah mich fassungslos an. »Das habt ihr noch nicht rausbekommen?«
    »Nein.«
    »Ich bin ein Opfer dieses Heims. Es war kein Kinderheim. Es war ein Umschlagplatz für frisches Fleisch. Der Forellenhof war
     die Lieferadresse. Dort wurden wir unseren Peinigern ausgeliefert.« Er steckte sich eine weitere Zigarette an, zog heftig
     daran, inhalierte tief. »Weißt du, wie es ist, wenn man vier, fünf, sechs, neun Jahre alt ist und eine Frau, eine ältere Frau,
     fasst dich an? Fasst dich überall an? Auch dort, wo du es nicht willst? Am Anus, am Penis? Kein Kind wird so angefasst? Es
     ist grausam, furchtbar.« Wieder zog er an der Zigarette. »Und weißt du wie es ist, wenn man lecken soll? Saugen? Lecken an
     einer stinkenden Muschi, saugen an verwelkten, hängenden Brüsten? Nein, das ahnst du nicht mal. Und wenn du nicht willst,
     tritt dich jemand.« Sein Fuß holte aus und trat mich in die Nieren.
    Ich keuchte.
    »Wenn du immer noch nicht willst«, fuhr er sachlich fort, »wirst du geschlagen.« Seine Faust landeteüberraschend schnell in
     meinem Gesicht. Ich hörte etwas Knacken, schmeckte Blut. Jetzt ist es vorbei, dachte ich und sank in die Bewusstlosigkeit.
     Ein Schwall kalten Wassers holte mich zurück.
    »So einfach machen wir uns das aber nicht, Frauchen. Du willst doch sicher noch deinen Hund sterben sehen, oder?« Er lachte.
     Es klang grausam.
    |254| »Nein.« Ich zwang mich, meine Augen zu öffnen. Dies war ein Albtraum, aus dem ich in einen anderen, noch bizarreren erwacht
     war.
    »Das war nicht alles. Wenn wir nicht wollten wie sie, dann wurden wir gestraft.« Diesmal drückte er die Zigarette in meiner
     Handinnenfläche aus. Ich wollte schreien, konnte aber nicht, mir fehlten die Luft und die Kraft. Keuchend lag ich da, alles
     brannte und tat weh.
    »Du leidest, oder?« Seine Stimme klang sachlich. »Aber das ist gar nichts zu dem Schmerz einer Vergewaltigung. Ich war fünf,
     als ich in das Heim kam. Da hatte ich meine Milchzähne noch, aber nicht lange. Zum Glück wurde das Heim geschlossen, bevor
     ich meine festen Zähne bekam.« Er grinste mich breit an. Ein Zahnarztlächeln. »Zahnseide ist mir wichtig. Nie wieder wird
     mir jemand einen Zahn herausreißen, vorher sterbe ich oder er.«
    »Der Wirt vom Gasthof …«, sagte ich leise.
    »Mueskens. Ja, der hat uns vermittelt, die Sau. Er hat gut daran verdient. Übernachtung, Frühstück und Kind. Er und der Heimleiter
     Koschinski haben sich die Hände gerieben und das Geld eingesackt. Wir bekamen jedes Mal fünf Mark als Belohnung.« Er atmete
     hektisch, hatte das Gesicht zu einer hassvollen Fratze verzogen.
    »Deshalb die fünf Mark. Ein Lohn des Todes.«
    »Ja.« Er zog wieder an der Zigarette, schaute durch das Gittertor nach draußen, nahm einen weiteren Zug, trat neben mich.
     Ich schloss die Augen, er würde die Zigarette auf mir ausdrücken. Den Schmerz kannte ich nun schon und wartete mit flachem
     Atem, kniff die Augen zusammen. Ich würde in dieser Kapelle sterben, genauso wie Kluge, wie Sonja und die anderen.
    »Warum Sonja?«, fragte ich. »Was hat sie getan?«
    »Sonja?« Er hielt inne, wich zurück. Sonja, ja.« Er zog wieder an der Zigarette, verzweifelt, so erschien es mir, trat die
     Kippe dann aus. »Sie war meine Schwester.«
    Hier schloss sich der Kreis, ich verstand. »Sie wurde adoptiert und du nicht.«
    |255| »Ja. Für zwei Wochen nahmen sie uns beide. Er und seine Frau.« Er zog den Rotz hoch und spuckte dann auf Kluge. »Dann kam
     ich wieder zurück in die Hölle. Zwei Wochen hoffen und dann wieder sterben in Raten die nächsten Jahre. Fünf Mark als Lohn.«
    »Sie sollte leiden so wie du.«
    »Ja. Sie und die anderen, die Fadenzieher, die schrecklichen Frauen und Männer.

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