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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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Munition mit sich zu Rate ging? Sollte er eine dieser Amethystkapseln an sich selber erproben, um das Ungeheuer der Schlaflosigkeit zu bändigen? Es waren insgesamt vierzig an der Zahl -vierzig Nächte mit einer fragilen kleinen Schläferin neben meinem pochenden Herzen; konnte ich mich auch nur einer solchen Nacht berauben, um selber zu schlafen? Gewiß nicht; viel zu kostbar war jede Liliput-Pflaume, jedes mikroskopische Planetarium mit seinem lebendigen Sternenstaub. Oh, lassen Sie mich dies eine Mal sentimental sein! Ich bin des Zynismus so müde!

26
    Der tägliche Kopfschmerz in der trüben Luft dieser Gefängnisgruft nagt an mir, aber ich muß durchhalten. Habe über hundert Seiten geschrieben und noch nichts geschafft. Mein Kalender gerät durcheinander. Es muß so um den 15. August 1947 gewesen sein. Nein, ich kann wohl nicht mehr. Herz, Kopf - alles. Lolita, Lolita, Lolita, Lolita, Lolita, Lolita, Lolita, Lolita, Lolita. Und so weiter, Setzer, bis die Seite voll ist.

27
    Noch immer in Parkington. Schließlich wurde mir doch noch eine Stunde Schlaf zuteil - aus dem mich der sinnlose und schrecklich erschöpfende Verkehr mit einem kleinen, behaarten, mir völlig fremden Hermaphroditen weckte. Mittlerweile war es sechs Uhr morgens, und mir kam plötzlich der Gedanke, es könne ratsam sein, früher als angekündigt im Camp anzukommen. Ich hatte von Parkington aus noch hundert Meilen zu fahren, und bis zu den Hazy Hills und nach Brice-land wären es noch mehr. Wenn ich gesagt hatte, ich würde Dolly nachmittags abholen, so nur, weil meine Phantasie darauf bestand, daß so bald wie möglich die barmherzige Nacht über meine Ungeduld herabsank. Doch jetzt sah ich Mißverständnisse aller Art voraus und zitterte bei dem Gedanken, daß eine Verzögerung ihr Gelegenheit zu einem Telephonanruf in Ramsdale gäbe. Als ich aber um 9 Uhr 30 zu starten versuchte, stellte ich fest, daß die Batterie leer war, und es war nahezu Mittag, als ich Parkington endlich verließ.
    Ich erreichte meinen Bestimmungsort gegen halb drei; parkte meinen Wagen in einem Fichtenwäldchen, wo ein grünbehemdeter, rothaariger Lümmel stand und in griesgrämiger Einsamkeit Hufeisen auf einen in die Erde gerammten Pfahl warf; wurde von ihm wortlos zum Büro in einem weißen Stuckhäuschen gewiesen; mußte mehrere Minuten mehr tot als lebendig das neugierige Mitgefühl der Camp-Leiterin über mich ergehen lassen, eines schlampigen, abgekämpften Weibsbildes mit rostrotem Haar. Dolly, sagte sie, habe schon gepackt und sei reisefertig. Daß die Mutter krank sei, wisse sie, aber nicht, daß es etwas Ernstes sei. Ob Mr. Haze, ich meine Mr. Humbert, gern das pädagogische Personal des Camps kennenlernen möchte? Oder die Hütten besichtigen, in denen die Mädchen untergebracht waren? Jede einem Disney-Geschöpf gewidmet? Oder das Haupthaus besichtigen? Oder solle Charlie gehen und sie holen? Die Mädchen legten für einen Tanzabend gerade letzte Hand an den Schmuck des Eß-saals. (Und später würde sie vielleicht zu diesem oder jenem sagen: «Der arme Kerl sah aus wie sein eigenes Gespenst.»)
    Es sei mir erlaubt, diese Szene mit all ihren trivialen und schicksalhaften Einzelheiten einen Augenblick lang festzuhalten: die Hexe Holmes, die eine Quittung ausstellt, sich am Kopf kratzt, ein Schreibtischschubfach aufzieht, Wechselgeld in meine ungeduldige Hand schüttet und dann säuberlich einen Schein mit den fröhlichen Worten: «... und fünf!» darüber breitet; Photos von kleinen Mädchen; einen noch lebendigen, prächtig bunten Nachtfalter oder Schmetterling, der fest an die Wand gespießt ist («Naturkunde»); das gerahmte Diplom der Diätistin des Camps; meine zitternden Hände; eine Karteikarte, die die tüchtige Holmes hervorzieht und die einen Bericht über Dolly Hazes Betragen im Juli enthält («befriedigend bis gut; Vorliebe für Rudern und Schwimmen»); rauschende Bäume, zwitschernde Vögel und mein hämmerndes Herz ... Ich stand mit dem Rücken zur offenen Tür und fühlte plötzlich das Blut zu Kopfe schießen, als ich ihren Atem und ihre Stimme neben mir hörte. Sie schleifte ihren schweren Koffer bumsend neben sich her. «Hei!» sagte sie, blieb stehen und sah mich aus schlauen, frohen Augen an, die weichen Lippen zu einem etwas törichten, aber wunderbar liebenswerten Lächeln geöffnet.
    Sie war dünner und größer geworden, und eine Sekunde lang kam mir ihr Gesicht weniger hübsch vor als das Bild, das ich länger als einen Monat

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