Lolita (German)
entkleidete) «Reinheit» durch irgendein jugendlich erotisches Erlebnis, zweifellos lesbischer Art, in ihrem verdammten Camp ein wenig gelitten haben sollte. Als ich sie kennenlernte, hatte ich, Jean-Jacques Humbert, es aufgrund meiner altmodischen europäischen Vorstellungen natürlich erst einmal für selbstverständlich gehalten, daß sie so unberührt sei, wie es seit dem beklagenswerten Ende der vorchristlichen antiken Welt mit ihren hochinteressanten Bräuchen dem Stereotyp des «normalen Kindes» entsprach. In unserem aufgeklärten Zeitalter sind wir nicht mehr von kleinen Sklavenblumen umgeben, die nebenher, zwischen Termin und Therme, gepflückt werden können, wie es in den Tagen der Römer an der Tagesordnung war; und anders als würdevolle Orientalen in noch üppigeren Zeiten liebkosen wir zwischen Hammel und Rosensorbet keine dienstbaren Kinder von vorn und von hinten. Es ist doch so, daß neue Sitten und neue Gesetze die alte Verbindung zwischen der Erwachsenen- und der Kinderwelt vollständig zerrissen haben. Obwohl ich mich, wenn auch nur auf amateurhafte Art, eine Zeitlang mit Psychiatrie und Sozialpädagogik befaßt hatte, wußte ich von Kindern so gut wie nichts. Schließlich war Lolita erst zwölf, und welche Zugeständnisse ich auch an den Ort und die Zeit machte - selbst wenn ich das zügellose Benehmen amerikanischer Schulkinder in Rechnung stellte-, blieb ich doch dem Eindruck verhaftet, daß das, was sich unter diesen ungestümen Gören abspielen mochte, einem späteren Alter und einer anderen Umwelt vorbehalten war. Indem er an konventionellen Begriffen von dem festhielt, was ein zwölfjähriges Mädchen zu sein hätte, verfehlte daher der Moralist in mir den springenden Punkt (um den Faden dieser Erklärung wieder aufzunehmen). Der Kindertherapeut in mir (ein Scharlatan wie die meisten - aber egal) käute neo-freu-dianisches Gesums wieder und erfand eine träumende und exaltierte Dolly in der «Latenz»-Periode ihres Mäd-chentums. Schließlich hätte der Sensualist in mir (ein großes und wahnsinniges Monstrum) nichts gegen eine gewisse Verderbtheit seiner Beute gehabt. Aber irgendwo hinter der rasenden Seligkeit berieten sich bestürzte Schatten - und daß ich sie nicht beachtet habe, das ist es, was ich jetzt bedauere. Menschen, hört mich an! Ich hätte wissen müssen, daß Lolita bereits bewiesen hatte, wie sehr sie sich von der unschuldigen Annabel unterschied und wie sehr das nymphisch Böse, das aus jeder Pore dieses von mir für meinen geheimen Genuß präparierten Koboldkindes atmete, die Geheimhaltung unmöglich und den Genuß tödlich machen würde. Ich hätte wissen müssen (durch Zeichen, die mir etwas in Lolita hatte zukommen lassen - das wirkliche Kind Lolita oder ein sorgenvoller Engel hinter seinem Rücken), daß aus der erwarteten Seligkeit nichts als Schmerz und Grauen entstehen würden. O geflügelte Herren Geschworene!
Und sie war mein, sie war mein, der Schlüssel war in meiner Faust, meine Faust war in meiner Tasche, Lolita war mein. Im Laufe all der Beschwörungen und Berechnungen, denen ich so viele Schlaflosigkeiten gewidmet hatte, hatte ich allmählich all die überflüssigen Trübungen beseitigt, eine durchsichtige Farbschicht über die andere gelegt und so ein endgültiges Bild erhalten. Bis auf eine Socke und ein Talismanarmband nackt auf dem Bett ausgebreitet, wo mein Zaubertrank sie zu Fall gebracht hatte - so sah ich sie liegen; sie hielt noch ein Samthaarband zwischen den Fingern; ihr honigbrauner Körper, auf dessen Teint sich das weiße Negativ eines kurzen Badetrikots abzeichnete, wies mir seine blassen Brustknospen; im rosigen Lampenlicht glänzte ein kleines Schamvlies auf seinem rundlichen Hügel. Der kalte Schlüssel mit seinem warmen Holzanhänger war in meiner Tasche.
Ich schlenderte durch verschiedene Gesellschaftsräume, innerlich strahlend, äußerlich düster: Denn ; Wollust sieht immer düster drein; Wollust ist nie ganz sicher - selbst wenn man das samthäutige Opfer im Verlies eingeschlossen hat -, daß nicht doch ein nebenbuhlerischer Teufel oder ein einflußmächtiger Gott dar-i auf aus ist, den bevorstehenden Triumph im letzten Augenblick zu vereiteln. In schlichten Worten: Ich mußte etwas trinken; aber an dieser ehrwürdigen Stätte voller schwitzender Philister und Stilmöbel gab es keine Bar. ! Ich geriet in die Herrentoilette. Ein Mann in klerika lem Schwarz - ein aufgeknöpfter Typ, comme on dit -, der mit Wiener Hilfe
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