Lolita (German)
gehäufter Kinobesuche sahen wir viele Wochenschauen bis zu einem halben Dutzend mal, weil ein und dieselbe mit verschiedenen Hauptfilmen zusammen lief und uns von Stadt zu Stadt verfolgte. Ihre liebsten Genres waren: Musicals, Gangsterfilme, Cowboyfilme - in dieser Reihenfolge. In den ersten machten wirkliche Sänger und Tänzer eine unwirkliche Bühnenkarriere in einer garantiert kummerfreien Existenzsphäre, aus der Tod und Wahrheit verbannt waren und in der zum Schluß der weißhaarige, zu Tränen gerührte, strenggenommen unsterbliche Vater eines theatertollen Mädchens, der sich am Anfang noch gesträubt hatte, ihre Apotheose am glamourösen Broadway dann immer doch beklatschte. Die Unterwelt war eine Welt für sich: Da wurden heldenhafte Journalisten gefoltert, Telephonrechnungen in die Milliarden getrieben, Verbrecher in einer männlichen Atmosphäre inkompetenter Schießerei von pathologisch furchtlosen Polizisten durch Kanalisationsrohre und Lagerschuppen gehetzt (ich sollte sie weniger Anstrengung kosten). Schließlich kamen die Terrakottalandschaft, die blauäugigen Reiter mit den gesunden Gesichtern, die spröde, hübsche Schullehrerin, die in Roaring Gulch eintrifft, das sich bäumende Pferd, die spektakuläre Stampede, die durch die klirrende Fensterscheibe gesteckte Pistole, der stu-pende Faustkampf, der zusammenbrechende Berg staubiger altmodischer Möbel, der Tisch, der als Waffe dient, ein gerade noch rechtzeitiger Salto, die fest umklammerte Hand, die noch immer nach dem fallen gelassenen Jagdmesser tastet, das Stöhnen, das süße Krachen, wenn die Faust das Kinn trifft, der Tritt in den Bauch, der Sturmangriff aus der Hocke; und unmittelbar nach einem Übermaß von Schmerz, der einen Herkules ins Krankenhaus gebracht hätte (ich dürfte inzwischen Bescheid wissen), war von alledem nicht mehr zu sehen als die recht kleidsame Schramme auf der Bronzewange des warmgewordenen Helden, der seine prächtige Wildwestbraut umarmt. Ich entsinne mich einer Nachmittagsvorstellung in einem ldeinen stickigen Kino, das voller Kinder war und nach heißem Popcorn-Atem stank. Gelb stand der Mond über dem behalstuchten Schnulzensänger, sein Finger lag auf der Klimpersaite, sein Fuß ruhte auf einem Fichtenstamm; ich hatte in aller Unschuld Los Schulter umfaßt und näherte meinen Kiefer ihrer Schläfe, als zwei Harpyen hinter uns anfingen, die seltsamsten Dinge zu murmeln - ich weiß nicht, ob ich recht hörte, aber was ich zu hören glaubte, ließ mich meine liebkosende Hand schleunigst zurückziehen, und natürlich war der Rest des Films für mich nur noch Nebel.
Ein anderer Schreck, dessen ich mich erinnere, hängt mit einem Kaff zusammen, durch das wir eines Nachts auf unserer Rückreise kamen. Etwa zwanzig Meilen weiter zurück hatte ich ihr mitgeteilt, daß die Schule, die sie in Beardsley besuchen werde, recht vornehm sei - keine Koedukation, kein moderner Unfug -, woraufhin Lo mich mit einem ihrer Wutausbrüche traktierte, in denen Bitten und Beschimpfungen, Selbstbehauptung und Schwindel, boshafte Vulgarität und kindliche Verzweiflung zu einem peinvollen Anschein von Logik verflochten waren, die mir einen Anschein von Erklärung abforderte. Im Netz ihrer wüsten Worte (tolle Gelegenheit ... ich wär ja ein Trottel, wenn ich dich ernst nähme ... Mistkerl... du hast mich gar nicht rumzu-kommandieren ... ich verachte dich ,.. und so fort), fuhr ich mit meinem gewöhnlichen glatten Landstraßentempo von achtzig Stundenkilometern durch die schlummernde Ortschaft, als plötzlich eine Zweierstreife ihren Scheinwerfer auf den Wagen richtete und mich stoppte. Ich zischte Lo zu, sie solle ruhig sein, weil sie noch immer mechanisch weiterschimpfte. Die Männer musterten sie und mich mit boshafter Neugier. Plötzlich ganz Grübchen, strahlte Lo sie so süß an, wie sie meine orchideenhafte Männlichkeit nie angestrahlt hatte; denn in gewisser Weise hatte sie sogar noch mehr Angst vor dem Gesetz als ich - und als die gütigen Ordnungshüter uns freisprachen und wir untertänig weiterkrochen, schloß sie in einer Nachahmung erschöpfter Unterwerfung flatternd die Lider.
An dieser Stelle muß ich ein sonderbares Geständnis ablegen. Sie werden lachen - aber um die volle Wahrheit zu sagen, ich habe nie genau herausbekommen können, wie die Rechtslage eigentlich war. Ich weiß es noch immer nicht. O ja, das eine oder andere habe ich schon in Erfahrung gebracht: Alabama verbietet dem Vormund, den Wohnort seines
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