Lolita (German)
Mündels ohne Genehmigung des Gerichts zu ändern; Minnesota, ein Staat, vor dem ich den Hut ziehe, sieht vor, daß das Gericht nichts mehr zu sagen hat, sobald ein Verwandter ständig für Erziehung und Unterhalt eines Kindes unter vierzehn aufkommt. Frage: Kann der Stiefvater eines atemraubend entzückenden halbwüchsigen Kätzchens, Stiefvater erst seit einem Monat, neurotischer Witwer in reifem Alter mit einem kleinen Vermögen, das ihn indessen finanziell unabhängig macht, ein Mann, der die Brüstungen Europas, eine Scheidung und ein paar Irrenhäuser hinter sich hat - kann er als Verwandter gelten und damit als natürlicher Vormund? Und wenn nicht, wäre ich verpflichtet, könnte ich es vernünftigerweise riskieren, einem Sozialamt Meldung zu erstatten und einen Antrag zu stellen (wie stellt man einen Antrag?) und einen Gerichtsbeauftragten den dubiosen eingeschüchterten Humbert und die gefährliche Dolores Haze überprüfen zu lassen? Die vielen Bücher über Heirat, Notzucht, Adoption und so weiter, die ich in öffentlichen Bibliotheken großer und kleiner Städte schuldbewußt konsultierte, verrieten mir nichts, sondern gaben mir nur dunkel zu verstehen, daß der oberste Vormund minderjähriger Kinder der Staat ist. In dem eindrucksvollen Band zum Eherecht von Pilvin und Zapel, wenn ich die Namen richtig in Erinnerung habe, kommen Stiefväter, die Waisenmädchen in der Hand und auf den Knien haben, überhaupt nicht vor. Mein bester Freund, eine von der Sozialfürsorge herausgegebene Monographie (Chicago, 1936), die eine naive alte Jungfer mit großen Mühen aus einem verstaubten Winkel des Magazins für mich ausgrub, stellte fest: «Einen Grundsatz, daß jeder Minderjährige einen Vormund haben muß, gibt es nicht; das Gericht verhält sich passiv und greift in das Getümmel erst dann ein, wenn das Kind in eine offensichtlich gefährliche Lage gerät.» Ein Vormund, folgerte ich, wurde also nur eingesetzt, wenn er feierlich und in aller Form einen entsprechenden Wunsch zum Ausdruck brachte; aber Monate könnten vergehen, ehe er aufgefordert wurde, zu einer Anhörung zu erscheinen und sich ein Paar grauer Fittiche wachsen zu lassen, und in der Zwischenzeit bliebe das holde Dämonkind rechtlich sich selbst überlassen, wie es bei Dolores Haze der Fall war. Dann käme die Anhörung. Ein paar Fragen vom Richter, ein paar beruhigende Antworten vom Anwalt, ein Lächeln, ein Nicken, ein dünner Sprühregen draußen, und der Vormund wäre ernannt. Und doch wagte ich es nicht. Gerate da nicht hinein, sei eine Maus, verkrieche dich in deinem Loch. Das Gericht wurde nur dann außerordentlich geschäftig, wenn es um Geld ging: zwei habgierige Vormünder, eine ausgeplünderte Waise, ein noch habgierigerer Dritter. Doch im vorliegenden Fall war alles in bester Ordnung, eine Inventur war gemacht, und der kleine Nachlaß ihrer Mutter wartete unangetastet auf Dolores Hazes Volljährigkeit. Sicher war es die beste Taktik, von jedem Antrag abzusehen. Oder würde jemand Ubereifriges, irgendeine humanitäre Organisation sich einmischen, wenn ich mich zu still verhielt?
Freund Farlow, der eine Art Rechtsanwalt war und imstande hätte sein sollen, mir ein paar verläßliche Ratschläge zu geben, war viel zu sehr mit Jeans Krebserkrankung beschäftigt, um mehr zu tun, als er versprochen hatte - nämlich sich um Charlottes magere Besitztümer zu kümmern, solange ich mich, sehr allmählich, vom Schock erholte, den ihr Tod bei mir ausgelöst hatte. Ich hatte ihm suggeriert, daß Dolores meine illegitime Tochter sei, und konnte also nicht von ihm erwarten, daß er sich groß den Kopf über die Lage zerbrach. Wie der Leser mittlerweile erkannt haben wird, bin ich ein schlechter Geschäftsmann; aber weder Unwissenheit noch Indolenz hätten mich gehindert, anderswo kompetenten Rat einzuholen. Was mich zurückhielt, war das unheimliche Gefühl, daß das Schicksal mir sein märchenhaftes Geschenk entrisse, wenn ich mich auf irgendeine Weise einmischen und versuchen sollte, es zu rationalisieren - genau wie der Palast auf dem Berggipfel in der orientalischen Sage, der immer verschwand, sooft ein Interessent den Verwalter fragte, woher es komme, daß von weitem zwischen dem schwarzen Felsen und den Grundmauern deutlich ein Streifen Abendrot zu erkennen sei.
Ich nahm an, in Beardsley (dem Sitz des Frauen-Col-leges Beardsley) Zugang zu Nachschlagewerken zu haben, die ich bisher noch nicht hatte studieren können, etwa Woerners Abhandlung
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