Lolita (German)

entlegene romantische Stelle unmittelbar unterhalb der Baumgrenze, wo himmelblaue Blüten, die ich gern Rittersporn nennen möchte, sich dicht an einen murmelnden Bergbach drängten, etwa hundert Fuß oberhalb des Passes, wo wir den Wagen gelassen hatten. Kein Mensch schien bislang auf diesem Hang gewesen zu sein. Eine letzte keuchende Fichte schöpfte auf dem Felsen, den sie erklommen hatte, wohlverdienten Atem. Ein Murmeltier pfiff uns zu und zog sich zurück. Unter dem Plaid, das ich für Lo ausgebreitet hatte, knisterten sacht trockene Blumen. Venus kam und ging. Die gezackte Felswand, die die obere Böschung krönte, und ein Sträucherdickicht unter uns schienen uns Schutz vor Sonne und Mensch zu bieten. Aber ach, ich hatte nicht mit einem fast unsichtbaren Seitenpfad gerechnet, der sich in einigen Schritt Entfernung verstohlen zwischen den Büschen und Felsen hinaufwand.
    Dort war es, daß wir dem Entdecktwerden näher waren als je zuvor, und es ist kein Wunder, daß dies Erlebnis mein Verlangen nach Liebe in der freien Natur ein für allemal zügelte.
    Ich weiß noch: Die Sache war vorüber, ganz vorüber, und sie weinte in meinen Armen - ein heilsamer Ausbruch von Schluchzern nach der launenhaften Niedergeschlagenheit, die im Verlauf des sonst wunderbaren Jahres so häufig geworden war! Ich hatte gerade irgendein dummes Versprechen zurückgenommen, das ich ihr in einem Augenblick blinder, ungeduldiger Leidenschaft hatte geben müssen, und da lag sie nun hingestreckt und schluchzte und kniff meine streichelnde Hand, und ich lachte glücklich, und das grauenvolle, unfaßbare, unerträgliche und, wie ich vermute, ewige Entsetzen, das ich jetzt kenne, war damals noch nichts als ein schwarzes Pünktchen im Blau meiner Seligkeit; und so lagen wir, als ich einen jener Schocks verspürte, die schließlich mein armes Herz aus seinem Gleis gestoßen haben, denn ich begegnete den unverwandten dunklen Augen zweier fremdartiger und schöner Kinder - eines kleinen Fauns und eines Nymphchens -, die das gleiche glatte dunkle Haar und die gleichen blassen Wangen als Geschwister, wenn nicht gar Zwillinge auswiesen. Sie standen geduckt und starrten uns an, beide in Spielanzügen, deren Blau mit dem Blau der Gebirgs-blumen verschmolz. Mit einer verzweifelten Bewegung griff ich nach dem Plaid, um es über uns zu decken -und im gleichen Augenblick geriet ein paar Schritt von uns entfernt etwas, das zwischen dem Unterholz zunächst wie ein großer gepunkteter Ball ausgesehen hatte, in drehende Bewegung und verwandelte sich in den sich allmählich aufrichtenden Rücken einer dicken Dame mit rabenschwarzem kurzem Haar, die ihrem Blumenstrauß mechanisch eine wilde Lilie hinzufügte, während sie uns über ihre Schulter und über ihre bezaubernden, aus blaugrauem Sandstein gemeißelten Kinder hinweg anstarrte.
    Jetzt, da ich einen ganz anderen Schlamassel auf dem Gewissen habe, weiß ich, daß ich ein mutiger Mensch bin, aber damals war es mir nicht bewußt, und ich entsinne mich, daß ich über meine eigene Kaltblütigkeit staunte, Mit dem ruhigen Befehl, den man einem schweißbedeckten, verwirrten, geduckten, dressierten Tier sogar noch in der übelsten Zwangslage zumurmelt (welch verrückte Hoffnung oder welcher Haß läßt wohl die Flanken des wilden jungen Tiers schlagen, welche schwarzen Sterne durchbohren das Herz des Bändigers!), hieß ich Lo aufstehen, und wir schritten erst würdevoll von dannen und rasten dann würdelos zum Wagen hinunter, Hinter ihm parkte eine schicke Familienkutsche, und ein schöner Assyrer mit kleinem blauschwarzem Bart, un monsieur tres bien , angetan mit Seidenhemd und magentaroten Hosen, allem Anschein nach der Ehegatte der korpulenten Botanikerin, photo-graphierte gerade mit ernsthafter Miene das Schild mit der Höhenangabe des Passes. Er war weit über dreitausend Meter hoch, und ich war ganz außer Atem; und während wir knirschend und schlitternd anfuhren, kämpfte Lo noch mit ihren Kleidern und beschimpfte mich in Ausdrücken, deren Kenntnis, geschweige denn deren Gebrauch ich einem kleinen Mädchen nicht im Traum zugetraut hätte.
    Es gab noch andere unangenehme Zwischenfälle. Zum Beispiel einmal in einem Kino. Damals hegte Lo noch eine wahre Leidenschaft für Filme (die während ihres zweiten Schuljahres zu lauer Herablassung abkühlte). Wahllos und wollüstig zogen wir uns im ersten Jahr ich weiß nicht mehr wie viele, sicher hundertfünfzig bis zweihundert Filme rein, und in den Perioden