Lolita (German)
Siestastunde auf den Knien hielt, mochte ich die Berührung des kühlen Sesselleders mit meiner massiven Nacktheit. Sie saß da, ein typisches Gör, das in der Nase bohrt, während es in die leichteren Zeitungsbeilagen vertieft ist, und war so gleichgültig gegen meine Ekstase, als wäre diese etwas, auf das sie sich versehentlich gesetzt hatte - ein Schuh, eine Puppe, der Griff eines Tennisschlägers - und das wegzuschieben sie zu faul war. Ihre Augen verfolgten die Abenteuer ihrer Comics-Favoriten, unter ihnen ein gut gezeichneter schlunziger Teenager mit weißen Söckchen, hohen Backenknochen und eckigen Handbewegungen, der es sogar mir angetan hatte; sie studierte die photographischen Ergebnisse von Frontalzusammenstößen; sie hatte niemals Zweifel an den Angaben über Zeit, Ort und Umstände, die den Reklamephotos nacktbeiniger Schönheiten beigegeben waren; und sie war merkwürdig fasziniert von den Photographien ortsansässiger Bräute, manche von ihnen in vollem Hochzeitsstaat abgebildet, Bukett in der Hand und Brille auf der Nase.
Eine Fliege ließ sich auf ihr nieder und spazierte in der Nähe ihres Nabels umher oder erkundete ihre zarten blassen Areolen. Sie versuchte, sie in der Faust zu fangen (Charlottes Methode), und wandte sich dann der Zeitungsrubrik «Mal sehen, wie gescheit Sie sind» zu.
«Mal sehen, wie gescheit Sie sind. Würde die Zahl der Sittlichkeitsverbrechen sinken, wenn Kinder sich an gewisse Regeln hielten? Spiele nicht in der Nähe öffentlicher Bedürfnisanstalten. Nimm keine Süßigkeiten an. Steige zu keinem Fremden ins Auto. Falls doch, notiere die Wagennummer.»
«Und die Bonbonmarke», warf ich ein.
Sie las weiter, ihre Wange (zurückweichend) an meiner (nachdrängend); und das war wohlgemerkt ein guter Tag, mein Leser!
«Hast du keinen Bleistift, aber kannst du schon lesen ...»
«Wir, mittelalterliche Seefahrer», witzelte ich zitierend, «haben dieser Flasche anvertraut, daß ...»
«Hast du keinen Bleistift», wiederholte sie, «aber kannst du schon lesen und schreiben - das will er doch sagen, du Dummkopf -, dann kratze die Wagennummer irgendwie am Straßenrand ein.»
«Mit deinen kleinen Klauen, Lolita.»
3
Mit unbesonnener Neugier war sie in meine Welt eingedrungen, das umbrafarbene und schwarze Humber-land; sie hatte diese Welt mit einem Achselzucken amüsierten Widerwillens in Augenschein genommen; und nun schien sie mir bereit, sich mit entschiedenem Abscheu von ihr abzuwenden. Nie erzitterte sie unter meiner Berührung, und ein schrilles «Was fällt dir ein!» war der Lohn für alle meine Mühen. Dem Wunderland, das ich zu bieten hatte, zog mein Närrchen die kitschigsten Filme, die klebrigste Schokoladensauce vor. Nicht auszudenken, daß sie vor der Wahl zwischen einem Hamburger und einem Humburger sich prompt und mit eisiger Unfehlbarkeit für jenen entschiede. Nichts ist grausamer als ein vergöttertes Kind. Habe ich schon den Namen der Milchbar erwähnt, in der ich da eben gewesen war? Ausgerechnet Königin Frigida hieß sie. Ich lächelte ein bißchen traurig und nannte Lolita meine Prinzessin Frigida. Sie verstand meinen wehmütigen Scherz gar nicht.
O Leser, runzle nicht die Brauen; ich habe nicht die Absicht, den Eindruck zu erwecken, als hätte ich es nicht geschafft, glücklich zu sein. Der Leser muß sich vor Augen halten, daß sich der verzauberte Wanderer im Besitz und im Bann eines Nymphchens jenseits des Glücklichseins befindet. Denn keine Seligkeit auf Erden ist der vergleichbar, ein Nymphchen zu liebkosen. Sie ist hors concours, diese Seligkeit, sie gehört einer anderen Gattung an, einer anderen Ordnung der Gefühle. Trotz unserer Kabbeleien, trotz ihrer Garstigkeit, trotz aller Schwierigkeiten, die sie machte, trotz der Gesichter, die sie schnitt, und trotz der Vulgarität und der Gefahr und der grauenvollen Hoffnungslosigkeit der ganzen Sache lebte ich tief in meinem erwählten Paradies, einem Paradies, dessen Himmel die Farbe der Höllenflammen hatte - und das dennoch ein Paradies war.
Dem fähigen Psychiater, der meinen Fall studiert -und den Dr. Humbert hoffentlich mittlerweile in einen Zustand kaninchenhafter Faszination versetzt hat -, ist zweifellos daran gelegen, daß ich mit meiner Lolita an die See fahre, damit mir dort endlich die «Befriedigung» eines lebenslangen Begehrens zuteil werde, die mich von der «unbewußten» Besessenheit der nie gestillten Kindheitsliebe zu der kleinen Miss Lee befreit, mit der alles
Weitere Kostenlose Bücher