London Road - Geheime Leidenschaft (Deutsche Ausgabe)
stand ich mir dort die Beine in den Bauch. Das einzige freie Taxi weit und breit wurde sofort von einer Gruppe Männer gekapert. Ich wartete noch eine Minute und hörte zwei betrunkenen Mädchen zu, die sich auf der anderen Straßenseite wüste Beschimpfungen an den Kopf warfen.
Langsam wurde mir unwohl dabei, hier zu stehen. Normalerweise hatte ich kein Problem damit, weil in dieser Gegend von Edinburgh selbst spätnachts noch zahlreiche Leute auf den Straßen unterwegs waren, die zwielichtige Absichten unheimlicher Fremder bemerkt und ihnen Einhalt geboten hätten. Trotzdem bekam ich auf einmal eine Gänsehaut, und die Haare in meinem Nacken standen mir zu Berge. Ich fuhr herum und spähte angestrengt die Straße entlang, die ich gekommen war. Ich sah niemanden.
Mit einem müden Seufzer beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war ein recht langer Marsch um diese Uhrzeit, und ich war nicht gerade begeistert von der Aussicht, die endlos lange London Road hinunterlaufen zu müssen, aber ich wollte auch nicht länger hier herumstehen.
Kurz vor der Ecke zum Blenheim Place veranlasste mich etwas, zurückzuschauen. Ein sechster Sinn, ein Kribbeln im Rücken, eine Ahnung …
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Eine dunkle Gestalt folgte mir in einigen Metern Entfernung. Ich erkannte den Gang sofort. Als Kind hatte ich ihn immer den »Cowboy«-Gang genannt. Dieses bewusste Mitschwingen der Schultern, die Brust vorgereckt, die Schritte lang und ausgreifend. So gingen Männer, wenn sie in den Kampf zogen. Und mein Vater war immer so gegangen, denn für ihn war jede Sekunde jedes Tages ein Kampf gewesen, in dem alle anderen seine Feinde waren.
Murray Walker verfolgte mich.
Hastig drehte ich mich wieder nach vorn, und ohne nachzudenken, bog ich statt in die London Road in die kopfsteingepflasterte Royal Terrace ein. Sie führte zunächst ein Stück bergauf und verlief dann parallel zur London Road. Nach wenigen Metern kam neben der Kirche ein kleiner Fußweg, der in die Royal Terrace Gardens führte. Ich stürzte durch den Eingang. Meine Muskeln brannten, weil der Weg so steil war, aber ich achtete kaum darauf. Ich lief weiter und bog dann auf den breiten Pfad ein, der um den Calton Hill herum weiter nach oben führte. Irgendwann ging der Weg wieder bergab, und ich würde am Waterloo Place herauskommen. Von dort aus konnte ich Richtung Westen in die Princes Street einbiegen, und dann weiter nach Norden in die Dublin Street.
Ich musste Murray auf eine falsche Fährte locken.
Er durfte auf keinen Fall erfahren, wo wir wohnten.
Der Gedanke, er könnte unsere Wohnung aufspüren, löste eine derartige Panik in mir aus, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte und den Fehler in meinem Plan nicht erkannte.
Ich. Allein. Auf einem schmalen, dunklen Fußweg. Mitten in der Nacht.
Adrenalin schoss durch meine Adern, als ich mit fliegenden Schritten den Hügel hinaufhastete. Ich versuchte, auf Geräusche hinter mir zu lauschen, aber mein Herz klopfte so rasend, dass es mir das Blut in tosenden Wellen in die Ohren pumpte. Meine Handflächen und Achselhöhlen waren klamm vor Schweiß, und ich bekam nur mühsam Luft. Ich war außer mir vor Angst.
Kurz darauf hörte ich schwere Schritte hinter mir. Ich fuhr herum und sah das wutverzerrte Gesicht meines Vaters im Mondschein.
Auf einen Schlag war es vorbei mit meiner Entschlossenheit, ihm gegenüberzutreten und zu beweisen, dass er mich nicht länger einschüchtern konnte. Ich war immer noch das kleine Mädchen, das Todesangst vor ihm hatte.
Und genau wie damals versuchte ich wegzulaufen.
Meine Schuhe hallten auf den Stufen wider, als ich immer weiter nach oben rannte. Ich wünschte, ich hätte andere Menschen – Zeugen – herbeizaubern können, doch es war weit und breit niemand zu sehen.
Ich war ganz allein.
Bis auf das Poltern seiner schweren Stiefel hinter mir.
Als seine harte, warme Hand mich am Arm packte, wollte ich laut schreien, wurde aber von seiner anderen Hand daran gehindert, die er mir grob auf den Mund schlug. Der Gestank von Schweiß und Zigaretten stieg mir in die Nase, und ich zappelte in seinem Griff, grub ihm die Fingernägel in den Arm und trat verzweifelt um mich, während er mich vom Weg zerrte. Im Durcheinander ließ ich meine Tasche mit dem Pfefferspray fallen.
Ich war nicht stark genug, um gegen ihn anzukommen, und jetzt hatte ich nicht einmal mehr eine Waffe.
Murray stieß mich brutal gegen den steinigen, grasbewachsenen Hang des Hügels.
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