London Road - Geheime Leidenschaft (Deutsche Ausgabe)
so groß wie Malcolm. Wahrscheinlich so um die eins dreiundachtzig. In hochhackigen Schuhen würde ich ihn bestimmt um ein paar Zentimeter überragen. Ich konnte seinen Bizeps sehen und die dicken Venen in seinen Unterarmen, weil dieser Wahnsinnige doch allen Ernstes im Winter ein T-Shirt trug! Er war nicht so muskulös wie die Männer, mit denen ich normalerweise ausging – nicht breit und kräftig, sondern schlank und sehnig. Mmm, »sehnig« war ein gutes Wort. Und hatte ich die Tattoos schon erwähnt? Die Details waren aus der Ferne nicht zu erkennen, aber man sah die bunten Motive deutlich auf seinen Armen.
Tattoos waren absolut nicht mein Ding.
Als sein Blick unter gesenkten Wimpern an meinem Körper hinab- und dann wieder hinaufwanderte, durchzuckte mich ein elektrischer Schlag, und ich schnappte unwillkürlich nach Luft. Die schamlose Art, mit der er mich musterte, war mir unangenehm und viel zu intensiv, und das obwohl ich in der Regel mit einem einladenden Lächeln reagierte, wann immer ein Typ mich unter die Lupe nahm. Nachdem der Unbekannte wieder bei meinem Gesicht angekommen war, warf er mir noch einen letzten eindringlichen Blick zu – einen Blick, der sich anfühlte wie das Streicheln einer rauen Hand auf meinem Körper – und wandte sich dann ab. Benommen und gleichzeitig total erregt, sah ich ihm nach, wie er hinter einer der Stellwände verschwand, die die Kunstgalerie in mehrere Bereiche aufteilten.
»Wer ist das denn?«, durchdrang Joss’ Stimme den Nebel in meinem Hirn.
Ich blinzelte ein paarmal, bevor ich mich mit einem vermutlich recht belämmerten Gesichtsausdruck zu ihr umdrehte. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Joss grinste. »Der sieht aber heiß aus.«
Hinter ihr war ein Räuspern zu hören. »Wie bitte?«
In ihren Augen konnte man ganz kurz ein diebisches Blitzen sehen, doch als sie sich gleich darauf zu Braden umdrehte, setzte sie ihre Unschuldsmiene auf. »Ich meinte natürlich, von einem rein ästhetischen Standpunkt aus gesehen.«
Braden brummte zwar ungläubig, drückte sie aber noch enger an sich. Joss zwinkerte mir zu, und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Braden Carmichael war ein knallharter, respekteinflößender Geschäftsmann, und trotzdem hatte Jocelyn Butler es irgendwie geschafft, ihn um den kleinen Finger zu wickeln.
Wir standen noch etwa eine Stunde zusammen, genossen den kostenlosen Champagner und unterhielten uns. Manchmal fühlte ich mich in Gegenwart der beiden ein bisschen gehemmt, weil sie so klug und gebildet waren. Ich hatte nur selten das Gefühl, irgendetwas Sinnvolles oder gar Interessantes zu ihrer Unterhaltung beitragen zu können, also lachte ich bloß und sah ihnen dabei zu, wie sie sich gegenseitig aufzogen. Wenn ich mit Joss allein war, war es anders. Ich kannte sie besser als Braden und musste mich in ihrer Gegenwart niemals verstellen – eine sehr angenehme Abwechslung zu meinem sonstigen Leben.
Wir kamen noch mit einigen anderen Gästen ins Gespräch und versuchten uns von ihrer Begeisterung für die ausgestellten Kunstwerke nicht irritieren zu lassen. Irgendwann jedoch wandte Joss sich entschuldigend zu mir und sagte: »Wir müssen jetzt los, Jo. Tut mir leid, aber Braden hat morgen früh ein Meeting.« Die Enttäuschung stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn gleich darauf schüttelte sie den Kopf. »Ach, weißt du was? Ich bleibe. Braden kann gehen, ich leiste dir noch ein bisschen Gesellschaft.«
Nein. Auf keinen Fall. Ich hatte solche Situationen schon früher durchgestanden. »Joss, geh ruhig mit Braden nach Hause. Ich werd’s schon überleben. Mich zu Tode langweilen, aber überleben.«
»Sicher?«
»Hundertprozentig.«
Sie drückte liebevoll meinen Arm, bevor sie Braden bei der Hand nahm. Er nickte mir zum Abschied zu, und ich erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und einem »Gute Nacht«. Dann sah ich ihnen nach, wie sie durch die Galerie in Richtung Garderobenständer gingen. Wie ein echter Gentleman hielt Braden Joss den Mantel und half ihr hinein. Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar, ehe er seinen eigenen Mantel anzog. Den Arm um ihre Schultern gelegt, trat er mit ihr hinaus in den kalten Februarabend. Ich blieb mit einem seltsamen Ziehen in der Brust zurück.
Ich sah auf meine goldene Omega-Uhr, die Malcolm mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf warf, bedauerte ich, dass ich die Uhr noch nicht verkaufen konnte. Sie war das teuerste Geschenk, das ich
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