Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
K APITEL 1
H eute war der erste September. Also der Tag, an dem meine ältere Schwester Justine eigentlich mit dem College beginnen sollte. Sie hätte jetzt Schulbücher kaufen und an ihre Zukunft denken sollen. Doch Justine hatte keine Zukunft mehr. Statt zu tun, was College-Neulinge eben taten, hatte sie sich mitten in der Nacht von einer Klippe gestürzt. Das war jetzt drei Monate her.
Und nun war ich diejenige, die über das Uni-Gelände marschierte.
»Das da drüben ist das Hathorn-Gebäude«, verkündete mein Campusführer gerade. »Und hier haben wir die Universitätskapelle.«
Ich lächelte höflich und folgte ihm über den Hof. Die hübsche parkähnliche Anlage war von roten Backsteingebäuden umgeben und voller junger Leute, die lachten, sich unterhielten und Stundenpläne verglichen.
»Dann gibt es noch die Coram-Bibliothek«, fuhr er gestikulierend fort, »und gleich dahinter die Hauptbibliothek – unser dreitausend Quadratmeter großes Mekka des Wissens.«
»Ich bin echt beeindruckt«, sagte ich und dachte dasselbe über ihn. Er hatte warme braune Augen, und sein schwarzes Haar war verwuschelt, als sei er auf einem Lehrbuch eingeschlafen und erst kurz vor unserem Termin wieder aufgewacht. Die Sonnenbräune seiner muskulösen Arme hob sich auffällig vom Weiß seines Sportshirts ab. Falls das Bates College versuchte, auf weibliche Teenager nicht nur akademisch, sondern auch romantisch attraktiv zu wirken, hatte es sich den richtigen Köder ausgesucht.
»Hier lässt es sich gut leben, das kannst du mir glauben. Als Studentin würdest du dich wohl fühlen.« Er blieb stehen und zog mich am Ärmel näher. Als ich willig auf ihn zutrat, sauste ein Frisbee direkt dort vorbei, wo eben noch mein Kopf gewesen war.
»Natürlich glaube ich dir«, erwiderte ich.
Wir waren uns so nah, dass ich hörte, wie sich sein Atem beschleunigte. Seine Finger umklammerten meinen Ärmel fester, so dass sich die Muskeln seines Arms abzeichneten. Doch gleich darauf ließ er mich los und ballte die Hände um die Träger seines Rucksacks.
»Und was ist da drüben?«, wollte ich wissen.
Er folgte meinem Blick zu dem großen Gebäude neben der Bibliothek. »Dort siehst du den krönenden Höhepunkt unserer Tour«, verkündete er und marschierte auf die Eingangstreppe zu. Bei ihr angekommen, drehte er sich um und grinste. »Voilà, die Carnegie Science Hall.«
Ich legte dramatisch eine Hand aufs Herz. »Nein, ehrlich? Die Carnegie Science Hall? Wo viele der brillantesten, innovativsten Denker der Welt versammelt sind und mit ihren bahnbrechenden Forschungen die Wissenschaft revolutionieren?«
Nach einem kurzen Moment sagte er: »Äh, ja?«
»Warte mal kurz, das muss ich unbedingt fotografieren.«
»Da du anscheinend schon davon gehört hast«, sagte er, während ich in meiner Handtasche nach der Digitalkamera suchte, »wirst du auch wissen, welchen Ruf das Bates College durch die hier stattfindenden Forschungen genießt. Selbst wenn du keinen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt wählst, sollte allein die Existenz dieses Gebäudes die hohen Gebühren wert sein, die man für das Studium bezahlt.«
Vox clamatis in deserto. Die Stimme des Rufers in der Wüste.
Ich starrte auf den Bildschirm meiner Digitalkamera, sah jedoch in Wirklichkeit etwas ganz anderes: grüne Schlüsselanhänger und Kaffeebecher, einen Pullover und einen Regenschirm mit dem Logo von Dartmouth.
»Vanessa?«
»Sorry.« Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen, und hielt die Kamera in die Höhe. »Sag Cheeeeese.«
Er öffnete den Mund, doch dann fiel sein Blick auf etwas hinter meinem Rücken. Bevor ich mich umdrehen konnte, tippte mir schon jemand auf die Schulter.
»Das ist ganz falsch«, sagte der Typ hinter mir. Er schien ungefähr in meinem Alter zu sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, und wurde von zwei anderen Studenten flankiert, die bei meinem Anblick breit lächelten. Der Typ trug eine Outdoorhose, eine Fleecejacke und Wanderstiefel, als wolle er nach dem Unterricht direkt in die Wildnis stürmen.
»Und was soll falsch sein?«
»Das Foto. Ich meine, der Blick ist ja nicht schlecht … aber er wäre noch viel besser, wenn du auch darauf zu sehen wärst.« Er hielt mir eine ausgestreckte Hand entgegen. »Darf ich mal?«
»Oh.« Ich schaute nach unten auf die Kamera. »Danke, aber …«
»Wie wär’s mit Mitose?«, fragte mein Fremdenführer.
Der Naturfreund blickte verwirrt hoch zur Eingangstreppe. »Ich
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