London Road - Geheime Leidenschaft
hatte, hielt ich sie nicht auf. »Das ging so, bis ich zwölf war. Er war brutal und dumm. Mehr gibt es über Murray Walker nicht zu sagen. Er war nicht oft zu Hause, deswegen hatten wir meistens Ruhe vor ihm, aber wenn er da war, hat er Mum und mich geschlagen. Cole … Ich habe es immer geschafft, Cole aus der Schusslinie zu bringen, wenn Dad wieder mal einen seiner Ausraster hatte, oder ich habe ihn abgelenkt, damit er seine Wut stattdessen an mir ausließ.«
»Mein Gott, Jo …«
»Cole war zwei. Mein Vater hätte ihn mit einem einzigen Schlag umbringen können. Ich musste es tun.«
»Was ist aus ihm geworden? Aus deinem Vater?« Cam spie das letzte Wort aus, als hätte ein Mann wie Murray gar nicht das Recht, sich so zu nennen. Und das hatte er auch nicht.
Ich schürzte verächtlich die Lippen, als ich an Dads allergrößte Dummheit dachte. »Körperverletzung und bewaffneter Raubüberfall. Er hat zehn Jahre im Gefängnis in Barlinnie gekriegt. Keine Ahnung, ob er seine ganze Strafe abgesessen hat oder wann er rausgekommen ist – ich weiß nur, dass wir, als er irgendwann freikam, schon aus Paisley weggezogen waren. Wir hatten keine Adresse hinterlassen. Mum hat niemandem erzählt, wo wir hinwollten, und ich auch nicht.«
»War deine Mum immer schon so?«
»Sie hat getrunken, aber nicht so viel wie jetzt. Sie kam noch halbwegs zurecht.«
»Dann hat es erst angefangen, nachdem dein Vater in den Knast gekommen ist?«
»Nein.« Ich lachte bitter auf. Ich wusste genau, wann und weshalb sie angefangen hatte zu saufen. »Nicht, dass sie vorher eine tolle Mutter gewesen wäre oder so, aber sie war um Längen besser als jetzt. Nein.« Ich schloss die Augen, als sich ein dumpfer Schmerz in meiner Brust ausbreitete. »Es ist aus einem anderen Grund so schlimm geworden. Als ich noch jünger war, gab es einen Menschen in meinem Leben, dem ich zu hundert Prozent vertraut habe. Das war mein Onkel Mick. Er war nicht mein richtiger Onkel, sondern Dads bester Freund aus der Kindheit, aber trotzdem unheimlich nett. Ein absolut anständiger Kerl – er war Anstreicher und Raumgestalter und hat damit ganz gut verdient. Und trotzdem war er mit einem Arschloch wie meinem Vater befreundet. Ich habe nie richtig verstanden, wie das sein konnte, aber ich glaube, sie haben beide als Kinder viel durchgemacht, und das hat sie zusammengeschweißt. Mick hat sich oft furchtbar über Dad aufgeregt, aber trotzdem immer zu ihm gehalten. Sooft er konnte, ist er vorbeigekommen und hat sich um uns gekümmert. Manchmal hat er mich sogar auf die Arbeit mitgenommen.« Der Schmerz in meiner Brust wurde stärker, als ich den Verlust erneut durchlebte. »Er wusste nicht, dass mein Vater mich schlägt. In seiner Gegenwart hat mein Vater sich immer zurückgehalten. Ich glaube, Dad hatte sogar ein bisschen Angst vor Mick. Aber als ich zwölf war, ist es dann passiert.« Ich erschauerte, als die Erinnerungen auf mich einströmten.
»Es war ein Samstag, mein Vater hat im Fernsehen Fußball geschaut und getrunken. Mum war auf der Arbeit. Ich habe den Fehler gemacht, an einer wichtigen Stelle im Spiel durchs Bild zu laufen. Er hat mich ins Gesicht geschlagen, und ich bin hingefallen …« Ich holte tief Luft und starrte auf den Teppich. Mit einem Mal war der ganze elende Schmerz wieder da. Noch nie hatte mir etwas so weh getan. Das Brennen, dieses heiße Stechen … »Dann hat er den Gürtel aus seiner Hose gezogen und mich damit verprügelt … Ich sehe immer noch sein Gesicht vor mir – als wäre ich für ihn gar kein menschliches Wesen, geschweige denn seine Tochter.« Vorsichtig hob ich den Blick. Cam war bleich geworden, er beherrschte sich nur mühsam. »Ich hatte Glück, dass Onkel Mick aufgetaucht ist. Er hat mich schreien hören und kam ins Wohnzimmer gestürzt. Onkel Mick war ziemlich kräftig und, na ja … Wegen ihm ist Dad an dem Tag im Krankenhaus gelandet. Mick wurde verhaftet, aber keiner der beiden hat mit einem Wort erwähnt, dass Dad mich geschlagen hatte, aus Angst, dass sich sonst das Jugendamt einschalten würde. Dad hat einfach seine Anzeige zurückgezogen, und Onkel Mick kam mit einem Bußgeld davon. Dad ist dann abgehauen, und das Nächste, was wir von ihm hörten, war, dass er wegen bewaffneten Raubüberfalls verurteilt worden war. Während er im Knast saß, kam Onkel Mick öfter bei uns vorbei. Er hat uns sogar im Haushalt geholfen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich so was wie einen richtigen Vater, der mich mochte
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