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Stumme Zeugen

Titel: Stumme Zeugen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Erster Tag
    Freitag
    In Ländern, wo Versammlungsfreiheit herrscht, sind Geheimgesellschaften unbekannt. In Amerika gibt es Splittergruppen, keine Verschwörungen.
    Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835
     
     
     
    Welcome to the Inland Northwest
Begrüßungsschild am Spokane Airport

North Idaho, Freitag, 16.28 Uhr
    Wäre die zwölfjährige Annie Taylor an diesem regnerischen Aprilnachmittag nicht auf die Idee gekommen, mit ihrem kleinen Bruder William angeln zu gehen, wäre es ihr erspart geblieben, die Exekution zu sehen und den Mördern in die Augen blicken zu müssen. Aber sie war nun einmal wütend auf ihre Mutter gewesen.
    Bevor sie Zeugen des Mordes wurden, waren Annie und William zum Fluss Sand Creek unterwegs, mit über die Kleidung gestülpten Mülltüten, die sie in Regencapes umfunktioniert hatten. Die Weiden waren nass, auf dem Regenwasser in den Mulden schwammen Erlenblätter, an Spinnweben zwischen den Zweigen zitterten Tropfen. Wenn sich dunkelgraue Sturmwolken vor die Sonne schoben, war der Wald in düsteres Zwielicht getaucht, alle Umrisse verschwammen. Die Erde war schwarz und aufgeweicht, und auf dem Weg mussten sie aufpassen, dass sie nicht ausrutschten. Auf dem schlammigen Boden machten ihre Schritte schmatzende Geräusche.
    Nachdem Annie und William das Haus ihrer Mutter am Stadtrand verlassen hatten, waren sie für ein paar Kilometer von Fiona Pritzle mitgenommen worden, der Postbotin. Anschließend hatten sie fast zwei Stunden lang nach einer geeigneten Stelle zum Angeln gesucht, wo die Strömung nicht so stark war.
    »Vielleicht war die Idee doch nicht so gut«, sagte der zehnjährige
William laut, um das Brausen des aufgewühlten, viel Wasser führenden Flusses zu übertönen.
    Annie blieb stehen und blickte ihren Bruder an. Aus dem behelfsmäßigen Regencape schaute eine Angelrute hervor, die sich ein paarmal in Zweigen verheddert hatte. »Du wolltest angeln, und ich gehe mit dir angeln.«
    »Aber du kennst dich damit nicht aus.« Er hatte die Augen weit aufgerissen, und seine Unterlippe zitterte, wie immer, wenn bald Tränen fließen würden.
    »William …«
    »Wir sollten lieber umkehren.«
    »Nicht weinen, William.«
    Er wandte den Blick ab. Sie wusste, dass er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Ihr Bruder schämte sich dafür, dass er so schnell und so häufig weinte, so sensibel und dünnhäutig war. Annie hatte dieses Problem nicht.
    »Wie oft hat Tom versprochen, dich zum Angeln mitzunehmen?«, fragte sie.
    William wollte ihr nicht in die Augen schauen. »Oft.«
    »Und wie oft hat er dich mitgenommen?«
    »Das weißt du genau«, sagte er mürrisch.
    »Ja, das weiß ich.«
    »Ich mag ihn trotzdem irgendwie.«
    »Ich nicht«, erwiderte Annie.
    »Du magst niemanden.«
    Annie wollte widersprechen, überlegte es sich jedoch anders. Vielleicht hat er recht, dachte sie. »Immerhin mag ich dich so sehr, dass ich mit dir angeln gehe, obwohl ich keine Ahnung davon habe. Aber so schwer kann es nicht sein, wenn Tom damit klarkommt.«

    Williams Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Ja, wahrscheinlich.«
    »Schau mal.« Sie hob die Mülltüte an, um ihm zu zeigen, dass sie darunter Toms Anglerweste trug, die sie, ohne zu fragen, im Vorraum ihres Hauses vom Haken genommen hatte. »In den Taschen sind jede Menge künstliche Fliegen und andere Köder. Wir spießen sie einfach mit dem Angelhaken auf und werfen die Schnur aus. Die Fische können nicht viel intelligenter sein als Tom. Was soll daran schon schwer sein?«
    »… wenn Tom damit klarkommt.« Williams Grinsen wurde breiter.
    In diesem Moment hörten sie trotz des rauschenden Wassers das Geräusch eines Motors, der kurz darauf abgestellt wurde.
     
    Der Verrat hatte sich an diesem Morgen ereignet, als Tom die Treppe heruntergekommen war und »Was gibt’s zum Frühstück?« gefragt hatte. Annie und William saßen am Küchentisch, fertig für die Schule angezogen, und aßen Cornflakes - er Sugar Pops, sie Frosted Mini-Wheats. Tom stellte diese Frage, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass er hier war, aber er täuschte sich. Bisher war er nie über Nacht geblieben und folglich auch nicht zum Frühstück erschienen. Er trug dieselben zerknitterten Kleidungsstücke wie am Vorabend, als er nach dem Essen ihre Mutter besucht hatte, seine »Angelklamotten« - weite Hosen mit bis zum Oberschenkel reichenden Reißverschlüssen und ein luftiges Hemd mit reichlich Taschen. Für Annie war das alles

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