London Road - Geheime Leidenschaft
sagen.« Plötzlich erschien ein verzagtes Lächeln in seinem Gesicht, das mein Herz noch schneller schlagen ließ. »Im Ernst, ich dachte schon, er würde mir eine verpassen.«
Das war nicht gerade die Art von Neuigkeiten, die ich hören wollte, und Cam musste das gespürt haben, denn er wurde augenblicklich wieder ernst. »Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen, dass dein Bruder von dir enttäuscht sein könnte, Jo. Er liebt dich über alles. Und was er da eben in eurer Küche gesehen hat – deswegen musst du dich nicht schämen. Du hast getan, was jede Mutter tun würde, um ihr Kind zu beschützen. Genau das bist du nämlich für ihn: Du bist seine Mutter, nicht seine Schwester – das ist mir jetzt klargeworden.« Er stieß einen reumütigen Seufzer aus. »Es tut mir leid, dass ich all diese furchtbaren Dinge zu dir gesagt habe. Und es macht mich fertig, dass du auf diese Weise rausfinden musstest, dass eure Mutter Cole schlägt.«
Ich sah zu Boden. Sprechen konnte ich nicht. Ich konnte seine Entschuldigung nicht annehmen – auch, weil eine undankbare Seite in mir dachte: Gut. Freut mich, dass es dir so richtig beschissen geht.
»Du musst mit jemandem darüber reden. Das da draußen im Treppenhaus, das ist passiert, weil du alles seit Ewigkeiten in dich reinfrisst. Seit Monaten … oder Jahren sogar? Jo, bitte rede mit mir.«
Stattdessen trank ich einen Schluck von meinem Wasser. Meine Finger zitterten, und ich wusste nicht, ob das am Adrenalin lag oder an meiner Angst, mich vor Cam emotional zu entblößen.
»Also gut.« Ich sah auf. Er hatte sich im Sessel nach vorn gelehnt und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck war vollkommen offen, so wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. »Vielleicht hilft es dir ja, wenn du zuerst mich ein bisschen besser kennenlernst.«
Meine Antwort bestand aus einem spöttischen Lachen. »Was denn? Warst du in deinem früheren Leben etwa Therapeut?«
Cam verzog das Gesicht. »Das hat mir noch nie jemand unterstellt. Weißt du, normalerweise sind es immer die Frauen, die von mir verlangen, ich solle mich ihnen mehr öffnen. Und jetzt ist da endlich mal eine Frau, deren Geschichte mich interessiert, und sie lässt mich nicht an sich ran. Das ist nicht gut für mein Ego.« Er lächelte schmeichelnd, und ich dachte an den Abend zurück, an dem ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Damals hatte er Becca genauso angelächelt, und ich hatte gedacht, dass ich für so ein Lächeln von ihm alles tun würde.
Komisch, wie sich innerhalb von ein paar Wochen alles ändern konnte.
Cam sah, wie sich mein Blick verdüsterte, und machte ein langes Gesicht. »Okay, Jo, du kannst mich alles fragen, was du willst.«
Ich zog eine Braue hoch. Alles? Es war ihm also wirklich ernst? Nun, es gab eine sichere Methode, es herauszufinden. Ich fixierte die Tätowierung auf seinem Arm, BE CALEDONIA in schwarzer Schnörkelschrift, und hörte Beccas Singsangstimme in meinem Ohr.
»… mach dir gar nicht erst die Mühe, ihn zu fragen, was zum Kuckuck das bedeuten soll, er wird’s dir nämlich nicht sagen.«
»Jo?«
Ich hob den Blick und sah in sein markantes Gesicht. »Was bedeutet das Tattoo? ›Be Caledonia‹?«
Sein linker Mundwinkel zuckte ganz leicht nach oben, und seine Augen funkelten. »Guter Schachzug.«
Ich war voll und ganz auf eine Abfuhr gefasst. Auf keinen Fall war ich Cam so wichtig, dass er mir das Geheimnis hinter der Tätowierung anvertrauen würde. Meine Frage bewies, dass sein angebliches Interesse nichts weiter war als oberflächliche Neugier, und dann konnte ich mich wieder darauf konzentrieren, ihn dafür zu hassen, dass er mehr über mein Leben wusste, als mir lieb war.
Dementsprechend perplex war ich, als er es sich in seinem Sessel bequem machte, und, ohne meinen Blick loszulassen, antwortete: »Mein Dad hat das mal zu mir gesagt.«
»Dein Dad?«, fragte ich ein wenig atemlos. Ich war völlig überrumpelt, weil er tatsächlich geantwortet hatte. Aber was bedeutete seine Antwort?
Cam nickte und hatte auf einmal diesen versonnenen Ausdruck in den Augen, der mir sagte, dass er in Erinnerungen versunken war. »Ich bin in Longniddry aufgewachsen, mit einer liebevollen Mutter und einem fürsorglichen Vater. Ich habe nie zwei Menschen kennengelernt, die sich oder ihr Kind mehr geliebt hätten. Und Dads Bruder, der Onkel, von dem ich mal kurz erzählt habe, war wie ein zweiter Vater für mich. Er war immer für mich da. Es gab einen engen Zusammenhalt in unserer Familie.
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