London Road - Geheime Leidenschaft
Kapitel 1
Edinburgh, Schottland
I ch starrte das Bild an und fragte mich, was in Dreiteufelsnamen es darstellen sollte. Alles, was ich sah, war ein Haufen bunter Linien und Quadrate mit ein paar Schattierungen. Das Motiv kam mir vage bekannt vor. Ich hätte wetten können, dass bei uns zu Hause irgendwo ein Bild herumlag, das Cole im Alter von drei Jahren für mich gemalt hatte und das verblüffende Ähnlichkeit mit diesem hier aufwies. Allerdings konnte ich mir kaum vorstellen, dass irgendjemand dreihundertfünfundsiebzigtausend Pfund für Coles Kunstwerk auf den Tisch gelegt hätte. Die Tatsache, dass es tatsächlich Leute gab, die diese Summe für ein Stück Leinwand ausgeben würden, auf dem jemand großzügig verschiedene Farbschichten übereinandergeklatscht hatte, ließ mich ernsthaft am Geisteszustand meiner Mitmenschen zweifeln.
Ein unauffälliger Blick in die Runde verriet mir jedoch, dass den übrigen Besuchern die Bilder durchaus zu gefallen schienen. Vielleicht war ich schlicht und ergreifend nicht intellektuell genug für diese Art von Kunst. Im Bemühen, meinem Freund zuliebe etwas kultivierter zu erscheinen, setzte ich eine kritische Miene auf und schlenderte weiter zum nächsten Bild.
»Hm. Also, mir sagt das rein gar nichts«, ertönte kurz darauf eine leise, rauchige Stimme in meiner Nähe. Ich hätte diese Stimme unter Tausenden wiedererkannt. Ihr amerikanisches Englisch hatte eine leicht singende Satzmelodie angenommen, und hin und wieder schlugen die scharf klingenden Konsonanten des Schottischen durch. Das lag daran, dass die Sprecherin seit nunmehr fast sechs Jahren in Schottland lebte.
Meine Erleichterung kannte keine Grenzen. Ich wandte mich von dem Bild ab, um meiner besten Freundin Joss in die Augen zu schauen – wozu ich meinen Kopf ein gutes Stück senken musste. Zum ersten Mal an diesem Abend war das Lächeln in meinem Gesicht echt. Jocelyn Butler war Amerikanerin. Sie hatte vor nichts Angst, nahm kein Blatt vor den Mund und arbeitete seit fünf Jahren mit mir zusammen in einer ziemlich angesagten Bar namens Club 39 hinter der Theke. Der Club 39 lag in der George Street, einer der belebtesten Straßen in ganz Edinburgh.
Meine Freundin war nur etwa eine Handbreit größer als eine Parkuhr, dafür trug sie ein schwarzes Designerkleid mit Louboutins und sah absolut scharf aus. Genau wie ihr Freund Braden Carmichael. Er stand hinter ihr, hatte besitzergreifend einen Arm um sie gelegt und strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit aus. Er war optisch ein echter Leckerbissen und genau die Art von Mann, nach der ich schon seit Jahren Ausschau hielt. Wäre Joss nicht meine Freundin, und hätte Braden sie nicht über alle Vernunft vergöttert, hätte ich nicht lange gefackelt und ihn mir gekrallt. Braden maß annähernd einen Meter achtundneunzig und wäre damit der ideale Partner für eine Frau von meiner Statur gewesen. Ich selbst war stattliche eins achtundsiebzig groß – mit den richtigen Schuhen brachte ich es locker auf über eins dreiundachtzig. Außerdem war Braden sexy, reich und witzig. Und er liebte Joss wie ein Wahnsinniger. Sie waren seit knapp anderthalb Jahren zusammen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ein Heiratsantrag in der Luft lag.
»Du siehst toll aus«, sagte ich und betrachtete neidisch ihre Kurven. Im Gegensatz zu mir hatte Joss einen großen Busen, runde Hüften und einen phantastischen Hintern. »Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.«
»Ich hab was gut bei dir«, brummte Joss, bevor sie ihren skeptischen Blick über die Bilder schweifen ließ. »Wenn die Künstlerin mich fragt, was ich von dem Zeug halte, muss ich mir ein paar dicke, fette Lügen einfallen lassen.«
Braden drückte sie noch enger an sich und sah lächelnd auf sie herab. »Wenn die Künstlerin genauso prätentiös ist wie ihre Kunst, würde ich sagen: Warum lügen, wenn man genauso gut schonungslos ehrlich sein kann?«
Joss feixte. »Stimmt auch wieder.«
»Nein«, schaltete ich mich ein, weil ich wusste, dass sie genau das tun würde, wenn ich sie nicht ausbremste. »Becca ist Malcolms Ex, und sie sind immer noch gut befreundet. Wenn du hier einen auf Robert Hughes machst, hab ich hinterher den Ärger am Hals.«
Joss runzelte die Stirn. »Robert Hughes?«
Ich seufzte. »Das war ein berühmter Kunstkritiker.«
»Mir gefällt die Idee.« Joss hatte ein teuflisches Grinsen im Gesicht. »Wie sagt man so schön? Ehrlichkeit kommt gleich nach Gottesfurcht.«
»Ich glaube, das war
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