London
auf der der Druide lebte. Bei Ebbe konnte ein Mann von dort aus zu Fuß den Fluß zum Südufer überqueren, wobei das Wasser ihm nur bis zur Brust reichte. Wenn man von der Flußmündung heraufkam, war dies die erste Stelle, wo der Fluß gefahrlos passiert werden konnte. Wenn dieser römische Cäsar im Süden landete und in das weite Gebiet vordringen wollte, über das Cassivelaunus herrschte, dann war der einfachste Weg unweigerlich diese Furt.
Im Frühsommer kam es zu einem Vorfall, nach dem das Verhalten der Mutter – wie es Segovax schien – noch sonderbarer wurde. Es hatte eines Nachmittags mit einem Streit zwischen den Geschwistern begonnen. Segovax war mit Branwen spazierengegangen. Hand in Hand liefen sie durch die Wiesen am Südufer und erklommen dann den dahinterliegenden Hügel bis zum Waldrand. Eine Weile spielten sie zusammen, dann wollte Segovax wieder einmal das Speerwerfen üben. Er hatte seiner Schwester versprochen, daß sie es auch einmal probieren durfte. Aber nun wollte er ihr den Speer doch nicht geben, weil er fand, daß sie noch zu klein dafür sei.
»Du hast es mir aber versprochen!« protestierte sie.
»Mag sein. Aber ich habe meine Meinung geändert.«
Branwen mit ihrem kleinen, doch starken Körper und ihren klaren blauen Augen; Branwen, die versuchte, auf Bäume zu klettern, vor denen selbst er zurückschreckte; Branwen mit ihrem Temperament, das selbst die Eltern nicht zügeln konnten. Sie stampfte mit dem Fuß auf; ihr Gesicht rötete sich vor Zorn. »Das ist ungerecht! Du hast es mir versprochen! Gib ihn mir!« Und sie versuchte, ihm den Speer zu entreißen. Aber er nahm ihn schnell in die andere Hand.
»Nein, Branwen! Du bist meine kleine Schwester und mußt mir folgen!«
»Nein, das muß ich nicht!« Sie schrie diese Worte mit aller Kraft; ihr Gesicht war nun puterrot und tränenüberströmt. »Ich hasse dich!« kreischte sie und versuchte, ihn zu treten, aber er wehrte sie ab. Sie biß ihn in die Hand, und bevor er sie zu fassen bekam, rannte sie in den Wald und verschwand zwischen den Bäumen.
Eine Weile wartete er. Er kannte seine kleine Schwester. Sie saß wahrscheinlich dort im Wald auf einem Baumstamm und wartete, daß er kommen und nach ihr suchen würde, und schließlich tat er es auch. Er ging in den Wald und rief: »Branwen! Ich liebe dich!« Doch es kam keine Antwort. Lange streifte er im Wald umher. Wieder und wieder rief er ihren Namen. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sie sich aus dem Staub gemacht und war zu den Eltern nach Hause geschlichen, um ihnen zu sagen, daß er sie allein gelassen hatte, und dann würde er Ärger bekommen. So hatte sie ihn bereits früher einmal angeschwärzt. Also ging auch er heim, doch zu seiner Überraschung war sie nicht da.
»Sie versteckt sich irgendwo, um ihn zu ärgern«, meinte der Vater seufzend und schickte sich an, sie zu suchen. Doch die Mutter wurde kreidebleich. Ihr Unterkiefer sackte vor Entsetzen nach unten. Mit vor Angst heiserer Stimme schrie sie die beiden an: »Schnell! Findet sie, bevor es zu spät ist!« Segovax sollte nie den Blick vergessen, mit dem sie ihn bedachte. In diesem Blick lag beinahe Haß.
Noch immer leichenblaß hastete Cartimandua den Hügel hinauf. Ihren Mann hatte sie in eine andere Richtung geschickt. Der nun ziemlich verängstigte Segovax war bereits außerhalb ihrer Sichtweite. Sie rang nach Luft, doch die körperliche Anstrengung war nichts im Vergleich zu der schrecklichen Angst, die sie verspürte. Wenn das Mädchen weg war, dann war alles verloren.
Cartimanduas Gefühle hatten etwas Beängstigendes. Manchmal schienen sie wunderbar zu sein, dann wieder waren sie schrecklich, umklammerten sie und stießen sie vor sich her, so daß sie ihnen völlig hilflos ausgeliefert war. Und so war es auch jetzt. Als sie den Hügel hinaufrannte, kam es ihr vor, als sei die Leidenschaft für ihren Mann unendlich groß. Sie begehrte ihn. Sie wollte ihn beschützen. Sie brauchte ihn. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Wie sollte diese kleine Familie und das Baby ohne den Vater zurechtkommen? Außerdem sehnte sie sich nach weiteren Kindern.
Sie machte sich nichts vor. Es gab bereits jetzt mehr Frauen als Männer in den Weilern am Fluß. Sollte es zu Kämpfen kommen und er getötet werden, dann standen ihre Chancen sehr schlecht, einen neuen Mann zu finden. Ihre Leidenschaft hatte sie angetrieben; die Mutterschaft und die Sorge um ihre Familie hatten sie zu diesem grausamen Entschluß
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