London
gebracht, unter dem sie schon den ganzen Frühling litt. Sie hatte das Richtige getan, sagte sie sich immer wieder. Es war ein guter Handel. Wahrscheinlich ging es dem Mädchen damit besser. Es war notwendig. Es war alles zum Wohl ihrer Familie. Dennoch wollte sie am liebsten immer wieder laut schreien. Wenn Branwen nun etwas zustieße, dann würde ihr Mann wahrscheinlich sterben müssen.
Branwen hörte den Wolf erst, als er nur noch knapp zwanzig Fuß hinter ihr war. Als sie sich umdrehte und ihn sah, schrie sie. Der Wolf beobachtete sie, zum Sprung bereit. Doch dann hielt er inne. Es passierte nämlich etwas Überraschendes.
Branwen war starr vor Schreck, doch ihr Verstand arbeitete rasch. Sie wußte, daß der Wolf sie sofort mit seinen scharfen Zähnen packen würde, wenn sie zu fliehen versuchte. Sie hatte nur eine Chance. Wie alle Dorfkinder hatte auch sie schon Kühe heimgetrieben. Selbst wenn eine Kuh rannte, konnte sie von einem mit den Armen fuchtelnden Mann zur Umkehr gebracht werden. Vielleicht konnte sie das Biest mit ihrem Willen bezwingen. Sie durfte nur keine Angst zeigen. Ihre einzige Waffe – eine Waffe, die sie zu Hause oft genug einsetzte, und dort schien sie fast immer zu funktionieren – war ihre Wut. Wenn ich nur so tun könnte, als sei ich wütend, dachte sie, oder, noch besser, wenn ich tatsächlich wütend werden könnte – dann würde die Angst verschwinden.
Plötzlich sah sich der Wolf vor einem kleinen Kind stehen, dessen Gesicht hochrot und vor Wut verzerrt war und das mit seinen dünnen Armen herumfuchtelte und Schimpfworte ausstieß. Und was noch merkwürdiger war: Anstatt wegzurennen, kam das Kind auf ihn zu. »Verschwinde! Fort mit dir!« schrie es gellend. »Blödes Vieh! Mach dich aus dem Staub!«
Der Wolf wich ein wenig zurück. Branwen klatschte in die Hände, schrie, stampfte mit dem Fuß auf. Es war ihr tatsächlich gelungen, sich in Wut zu versetzen, obwohl sie gleichzeitig fieberhaft überlegte, wessen Wille wohl der stärkere sein würde. Sollte sie es wagen, weiter auf den Wolf zuzugehen? Würde er wegrennen? Oder würde er nach ihr schnappen? Das wäre das Ende, das wußte sie genau.
Der Wolf beobachtete sie. Er spürte, daß sie zögerte, daß sie nur bluffte. Er ging zwei Schritte auf sie zu, knurrte und kauerte sich nieder, bevor er zum Sprung ansetzen wollte.
In diesem Moment sah er eine weitere Gestalt hinter dem Mädchen auftauchen. Das Tier erstarrte. Waren Jäger unterwegs? Nein. Es war nur diese einzige kleine Gestalt, ein weiteres Kind mit einem Stock in der Hand. Der Wolf wollte seine leichte Beute nicht aufgeben. Er wollte sich eben auf sie stürzen, da verspürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter. Der Junge hatte den spitzen Stock geworfen. Der Schmerz war heftig. Der Wolf hielt inne, dann sank er zu Boden.
Segovax wollte den Erwachsenen nichts von dem Wolf erzählen. »Wenn sie das erfahren, bekomme ich noch mehr Ärger«, meinte er.
Doch das kleine Mädchen war außer sich vor Aufregung. »Du hast ihn getötet!« rief sie begeistert. »Mit deinem Speer!« Da sah er ein, daß Widerstand sinnlos war. »Gehen wir!« seufzte er. Und sie machten sich auf den Heimweg.
Die Reaktion seiner Mutter war äußerst merkwürdig. Anfangs, während der Vater beide Kinder küßte und seinem Sohn auf die Schulter klopfte, sagte sie gar nichts. Doch nachdem der Vater weg war, weil er dem Wolf das Fell abziehen wollte, wandte sie sich mit einem fast gehetzten Gesichtsausdruck an Segovax. »Deine Schwester hätte sterben können! Ist dir das klar? Verstehst du, was du da getan hast?«
Segovax starrte unglücklich auf den Boden. »Ja, Mutter.« Natürlich verstand er. Doch anstatt ihn auszuschelten, stieß Cartimandua nur ein tiefes, verzweifeltes Stöhnen aus. So hatte er sie noch nie stöhnen hören. Er starrte sie besorgt an. Sie schien ihn fast vergessen zu haben und drückte nun das Mädchen an sich.
»Nein, du verstehst es nicht. Du verstehst überhaupt nichts.« Und dann stieß sie einen Ton aus, der fast wie das Wimmern eines Tieres klang, ließ die beiden Kinder stehen und ging allein in den Weiler zurück.
Der schreckliche Handel war abgeschlossen worden, als die Edelmänner des großen Häuptlings Cassivelaunus in diesem Frühling zum erstenmal in den Weiler gekommen waren, um die Verteidigung des Flusses zu planen. Vielleicht wäre ihr die Idee gar nicht gekommen, wenn der dunkelbärtige Kommandant den Frauen des Weilers gegenüber nicht eine
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