Lord Stonevilles Geheimnis
Schiffe zu verhandeln, aber dort sagte man mir, er sei weggegangen und nicht mehr gesehen worden, nachdem die Verhandlungen nach einem Monat gescheitert waren. Man hatte angenommen, er wäre nach Amerika zurückgekehrt. Und der Besitzer der Pension, in der er gewohnt hat, sagte ungefähr das Gleiche.«
Sie ging sichtlich erregt im Raum auf und ab. »Aber er ist auf keiner Passagierliste eines unternehmenseigenen Schiffs verzeichnet. Und was viel schlimmer ist: Der Pensionsbesitzer hat noch alle meine Briefe – ungeöffnet.«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn bekümmert an. »Ihm ist etwas Schreckliches widerfahren, und Ihr Bekannter weiß wahrscheinlich etwas darüber! Nathan hätte die Tasche niemals verpfändet. Ich habe sie ihm zu Weihnachten geschenkt. Er hätte sich gewiss nicht von ihr getrennt!«
Ihre Verzweiflung wirkte nicht gespielt. Er hatte sein Leben lang in oder in der Nähe von London gewohnt und war schon unzähligen Betrügern und Gaunern begegnet. Sie konnten ihre Abgebrühtheit nie vollständig hinter ihrer Tarnmaske verbergen. Sie hingegen …
Er beobachtete, wie schnell ihr Atem ging, und betrachtete ihre sorgenvolle Miene. Sie schien in jeder Hinsicht unschuldig zu sein. Ein dunkles Herz zu besitzen hatte den großen Vorteil, dass er wahre Unschuld aus hundert Metern Entfernung erkennen konnte.
Sie sagte wahrscheinlich die Wahrheit. Im Grunde wäre Lügen auch sinnlos gewesen, denn er hätte sie einfach hier festhalten können, bis er ihre Geschichte überprüft hatte. Das war jedoch nicht seine Absicht. Mit dieser Leidensgeschichte war sie fraglos die Richtige für seinen Plan.
Doch bevor er ihr die unorthodoxe Vereinbarung vorschlug, die er mit ihr treffen wollte, brachte er wohl besser in Erfahrung, auf was er sich eigentlich einließ. »Wie alt sind Sie?«
Sie stutzte. »Ich bin sechsundzwanzig. Was tut das zur Sache?«
Sie war also unschuldig, aber Gott sei Dank kein Kind mehr. Seine Großmutter wäre misstrauisch geworden, wenn er ein junges Ding, das frisch von der Schulbank kam, nach Hause gebracht hätte.
»Und Ihr Vater besitzt ein Schiffsbauunternehmen?«, fuhr er fort und zog sich seine Weste über. Ein reicher Mann hatte Beziehungen. Das konnte sich als Problem erweisen.
» Besaß . Ja.« Sie schob das Kinn vor. »Sein Name ist Adam Butterfield. Sie können jeden in der Branche fragen. Er ist überall bestens bekannt.«
»Aber die Frage ist, ob Sie den Leuten auch bekannt sind, meine Liebe.«
»Was soll das nun wieder heißen?«
»Bislang haben Sie mir noch keinen Beweis dafür vorgelegt, dass Sie seine Tochter sind.« Er knöpfte seine Weste zu. »Haben Sie kein Empfehlungsschreiben mitgebracht, das Ihnen hier den Weg ebnet?«
Sie sah ihn trotzig an. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so etwas brauche. Ich dachte, ich finde Nathan bei London Maritime .«
»Sie können ja bei der Reederei nachfragen«, schlug das Bürschchen eilfertig vor. »Dort wird man Ihnen sagen, mit welchem Schiff wir gekommen sind.«
»Man wird mir sagen, mit welchem Schiff Miss Butterfield und Mr Frederick gekommen sind«, entgegnete Oliver, während er seinen Mantel anzog. »Aber sofern der Kapitän Sie dort nicht persönlich vorgestellt hat, beweist das nicht viel.«
»Sie halten uns für Lügner?«, empörte sie sich.
Nein, das tat er nicht, aber es war besser, wenn er es sie nicht wissen ließ. »Ich mache Sie nur darauf aufmerksam, dass Sie mir bisher keinen Grund gegeben haben, Ihnen zu glauben. Ich denke, in gewissen Dingen unterscheidet sich Amerika kaum von England: Besitzer von Schiffsbauunternehmen haben eine gesellschaftliche Stellung zu wahren. Und da ich annehme, dass Ihr Vater vermögend war …«
»Oh ja!«, meldete der Bursche sich wieder zu Wort. »Onkel Adam war steinreich!«
»Und trotzdem konnte seine Tochter niemanden schicken, um ihren Verlobten zu suchen, wie es eine Frau von Ansehen getan hätte?«
»Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht!«, rief sie. »Und … nun, im Augenblick ist Papas Geld in der Firma gebunden, und dieses Problem lässt sich nicht ohne Nathan lösen.«
Ha, das wurde ja immer besser. »Dann sind Sie hier also praktisch allein und völlig mittellos, obwohl Sie behaupten, einen reichen Vater und eine gewisse Stellung in der Gesellschaft zu haben.« Oliver versuchte, noch mehr aus ihr herauszubekommen. »Ich soll also glauben, dass die Tochter eines wohlhabenden
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