Loretta Chase
zurückkehre.«
Natürlich
hatten sie bis jetzt damit gewartet – kurz bevor man nach Hargate House
aufbrechen wollte –, um ihm von der Krise auf einem der schottischen
Besitztümer der Dalmays zu berichten.
Der Earl
und die Countess of Hargate gaben einen Ball anlässlich des fünfundneunzigsten
Geburtstags von Eugenia, Dowager Countess of Hargate und Matriarchin der
Familie Carsington. Lisle war extra deswegen aus Ägypten gekommen – und das
nicht nur, weil es seine letzte Gelegenheit sein mochte, die durchtriebene alte
Dame noch einmal lebend zu sehen.
Obwohl er
mit seinen fast vierundzwanzig Jahren nun erwachsen war und nicht länger unter
der Obhut Rupert und Daphne Carsingtons stand, betrachtete Lisle die
Carsingtons noch immer als seine Familie. Genau genommen waren sie vielleicht
seine einzige Familie. Seine wahre Familie. Nicht im Traum fiele es ihm deshalb
ein, die Feierlichkeiten zu versäumen.
Er freute
sich schon darauf, sie alle wiederzusehen, insbesondere Olivia. Seit fünf
Jahren, seit seinem letzten Besuch zu Hause, hatte er sie nicht mehr zu Gesicht
bekommen. Und bei seiner Ankunft in London vor zwei Wochen war sie in
Derbyshire gewesen. Erst gestern war sie zurückgekehrt.
Anfang
September hatte sie sich wegen einer gelösten Verlobung auf den Landsitz ihrer
Eltern zurückgezogen. Es war die dritte, vierte oder zehnte Verlobung, die sie
gelöst hatte – obwohl sie ihm von allen in ihren Briefen berichtet hatte, hatte
er irgendwann den Überblick verloren –, doch stellte diese alle vorherigen
aufgrund ihrer Kürze in den Schatten. Keine zwei Stunden hatten zwischen ihrer
Annahme von Lord Gradfields Ring und der Rücksendung selbigens gelegen,
begleitet von einer ihrer an Unterstreichungen und Großbuchstaben reichen
Episteln. Die Zurückweisung hatte Seine Lordschaft so erzürnt, dass er einen
unschuldigen Dritten zum Duell forderte, bei dem beide Männer einander
gegenseitig zu Schaden brachten, wenngleich nicht in fataler Weise.
Kurzum, das
Übliche. Olivia sorgte immer für Aufregung.
Seiner
Eltern wegen war Lisle gewiss nicht nach Hause gekommen. Lächerlich waren sie,
alle beide. Zwar hatten sie Kinder, aber Eltern konnte man sie kaum nennen. Sie
hatten aneinander genug. Und an ihren endlosen ehelichen Dramen.
So wie
jetzt. Im Salon eine große Szene zu machen wegen einer Angelegenheit, die
normale Menschen zu passender Zeit vernünftig miteinander besprochen hätten –
nicht kurz bevor man zu einem Ball aufbrechen wollte. Das sah ihnen ähnlich.
Gorewood
Castle, so schien es, hatte sich während der letzten drei- oder vierhundert
Jahre in einem Prozess stetigen Zerfalls befunden, der von halbherzigen
Instandsetzungen nur notdürftig aufgehalten worden war. Aus unerfindlichem
Grund hatten seine Eltern nun beschlossen, ihm wieder zu seiner alten Pracht zu
verhelfen. Und er solle die Arbeiten vor Ort beaufsichtigen, denn es gebe ein
Problem mit ... Gespenstern ?
»Du musst gehen«, sagte seine Mutter eindringlich. »Jemand muss dort sein.
Jemand muss etwas tun .«
»Dieser
Jemand sollte euer Verwalter sein«, fand Lisle. »Es kann doch nicht sein, dass
Mains in ganz Midlothian keine Arbeiter findet. Ich dachte, die Schotten seien
so arm, dass sie händeringend nach Arbeit suchten.«
Er trat an
den Kamin, um sich die Hände zu wärmen.
In den
beiden Wochen seit seiner Heimkehr hatte er sich noch nicht wieder an das
englische Klima gewöhnt. Ein englischer Herbst fühlte sich für ihn wie tiefster
Winter an. Schottland wäre unerträglich. Selbst im Sommer war es grässlich:
grau, stürmisch,
verregnet. Wenn es nicht gar hagelte und schneite.
Er war
Unbill gewohnt und keineswegs zimperlich. Genau genommen waren die Bedingungen
in Ägypten viel unwirtlicher. Aber Ägypten bot ihm geheimnisvolle Welten, die
es zu entdecken galt. In Schottland gab es nichts zu entdecken, keine
jahrhundertealten Geheimnisse zu ergründen.
»Mains hat
alles versucht – sogar Bestechung«, sagte Vater. »Jetzt hilft nur noch die
Präsenz eines männlichen Familienmitglieds. Das macht Eindruck. Du weißt ja,
wie clanversessen die Schotten sind. Sie wollen, dass der Gutsherr persönlich
sich der Sache annimmt. Doch ich kann nicht fort, solange deine Mutter so
fragiler Verfassung ist.«
Mit anderen
Worten: Sie war tatsächlich wieder schwanger. Olivia hatte recht gehabt.
»Es scheint
doch, als müsstest du mich verlassen, Liebster«, klagte Mutter und fasste sich
mit matter Hand an die Stirn.
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