Loretta Chase
du
als Lord Rathbournes Stieftochter nun praktisch zur Familie gehörst, dürfte
logischerweise nichts dagegen einzuwenden sein, dass ich stattdessen dir
schreibe. Von deinen Neuigkeiten bin ich hin- und hergerissen. Einerseits
betrübt es mich sehr, dass ein weiteres unschuldiges Kind dem elterlichen
Sturmwind ausgesetzt wird. Andererseits freue ich mich auf sehr eigennützige
Weise darüber, endlich
Geschwister
zu haben, und freue mich, dass David so gut wächst und gedeiht. Ich wüsste
nicht, warum man dich dafür bestrafen sollte, dass du mich von der
Schwangerschaft meiner Mutter in Kenntnis gesetzt hast, doch habe ich auch nie
den Sinn der zahlreichen Einschränkungen verstanden, die man Frauen auferlegt.
Hier in Ägypten sind Frauen übrigens noch schlimmer dran, falls dir das ein
Trost ist. Auf jeden Fall hoffe ich, dass du nicht in Verbannung geschickt
wirst, nur weil du mich über die Umstände meiner Mutter aufgeklärt hast. Dein
Temperament verträgt sich nicht mit Regeln, geschweige denn mit Gefangenschaft.
Wovon ich mich während des von dir erwähnten Abenteuers überzeugen konnte.
Natürlich
erinnere ich mich noch lebhaft an den Tag, an dem ich plötzlich und unerwartet
– zwei Worte, die ich stets mit dir verbinden werde – London in deiner
Gesellschaft verlassen habe.
Jeder
Augenblick unserer Reise nach Bristol hat sich meinem Gedächtnis so tief
eingegraben wie die griechischen und ägyptischen Inschriften in den
Rosettastein – und dürfte von ebensolcher Dauer sein. Wenn jemand in ein paar
Jahrhunderten meinen Leichnam ausgräbt und mein Gehirn seziert, wird er es dort
in unverkennbaren Lettern stehen sehen: Olivia. Plötzlich. Unerwartet.
Du
weißt, dass ich Gefühle meinen Eltern überlasse. Mein Denken soll von Tatsachen
geleitet sein. Tatsache ist, dass mein Leben sich nach unserer Reise auf
bemerkenswerte Weise verändert hat. Wäre ich nicht mit dir nach Bristol
gefahren, hätte man mich auf eine schreckliche Schule in Schottland geschickt,
in der ein so spartanisches Regiment herrscht, dass selbst die Spartaner vor
Schreck erblasst wären. Ich hätte mich mit derselben Engstirnigkeit herumärgern
müssen, wie sie an anderen Schulen herrscht, nur unter sadistisch verschärften
Bedingungen wie der unverständlichen schottischen Mundart und dem grässlichen
Wetter. Und Dudelsäcken.
Zum Dank
lege ich dir ein kleines Andenken bei. Laut Tante Daphne transkribiert man die
Hieroglyphe für Skarabäuskäfer als »kheper« – wobei das »kh« wie das »ch« im
deutschen »ach« gesprochen wird. Jede Hieroglyphe hat meist mehrere Bedeutungen
und Verwendungen. Der Skarabäus steht für die Wiedergeburt. Meine Reise nach
Ägypten sehe ich als eine Art Wiedergeburt.
Es ist
noch viel aufregender, als ich zu hoffen gewagt hätte. Im Laufe der
Jahrhunderte hat der Wüstensand ganze Welten unter sich begraben, die wir erst
ansatzweise zu entdecken begonnen haben. Auch die Menschen faszinieren mich,
und meine Tage sind geistig und körperlich so anregend, wie sie es zu Hause
niemals waren. Ich weiß noch nicht, wann wir nach England zurückkehren. Aber
nicht zu bald, hoffe ich.
Hier
muss ich enden. Onkel Rupert ist eben zurückgekommen – unversehrt, wie wir mit
Freuden feststellen –, und ich will mir unbedingt anhören, was er von seiner
Begegnung mit den gallischen Gaunern zu berichten hat.
Dein
Lisle
P.S. Ich
wünschte, du würdest mich nicht immer Mylord nennen. Wenngleich mir nicht
entgeht, dass du es mit einem gewissen spöttischen Unterton verwendest, scheint
mir doch, dass du etwas zu ausgiebig vor mir am Knicksen bist, oder vielmehr –
in Anbetracht deiner Verwirrung hinsichtlich dessen, was sich für ein Mädchen
schickt und was nicht – am Verbeugen.
L.
PPS: Was für Kupferstich?
* * *
Vier Jahre später
London, 12. Februar 1826
Mein lieber L,
Glückwünsche
zu deinem ACHTZEHNTEN GEBURTSTAG!
Ich muss
mich eilen, denn ich soll wieder ins Exil geschickt werden, diesmal zu Onkel
Darius nach Cheshire. Das soll mir eine Lehre sein, eine Kleine PETZE wie Sophy
Hubble nie wieder mit in eine Spielhölle zu nehmen.
Wie sehr
ich wünschte, dein letzter Besuch zu Hause wäre länger gewesen! Dann hätten wir
diesen Bedeutsamen Tag GEMEINSAM begehen
können. Aber in Ägypten geht es dir natürlich viel besser, ich weiß.
Und wärest
du länger geblieben, hätte es zudem sein können, dass man dir die Rückkehr nach
Ägypten gar ganz VERWEHRT hätte.
Bald
nach deiner Abreise kam
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