Lost Girl. Im Schatten der Anderen
viele Tausend Meilen entfernt in einer Großstadt, wo es Stürme gibt und die Sonne die Erde ausdörrt.
Das sagt zumindest Mina Ma. Ich selbst werde die Stadt nie kennenlernen. Nicht solange meine Andere lebt, nicht solange ihr Stern fest am Nachthimmel steht.
Als Mina Ma mit dem Tablett hereinkommt, setze ich mich im Bett auf und schiebe die Hausaufgaben beiseite, an die ich sowieso seit einer halben Stunde nicht mehr gedacht habe. Meine Laune bessert sich ein wenig. Ich weiß, dass Scones köstlich schmecken, weil ich an meinem elften Geburtstag eins vom Tablett stibitzt habe. Meine Andere hat nie welche gegessen.
»Du traust dich vielleicht was, Mina Ma«, necke ich sie. »Einfach so die Regeln brechen, was werden die Meister dazu sagen?«
Mina Ma schnaubt. »Von uns beiden verrät es ihnen ja keiner.«
»Du hast Recht.« Ich lächle angestrengt weiter, aber wir wissen beide, dass Mina Ma die Regeln nicht einfach so bricht. Wenn sie das Risiko eingeht, mir Scones zu bringen, heißt das, dass sie ein schlechtes Gewissen hat. Sie fühlt sich schuldig, weil sie mich nicht vor den Launen meiner Anderen beschützen kann. Ich verstärke mein Lächeln. »Es geht mir gut, Mina Ma. Du musst mich nicht trösten.«
Sie streicht mir eine Strähne aus der Stirn. »Ich muss vieles nicht, tue es aber trotzdem.«
Nun muss ich wirklich lächeln. Mina Ma steht auf und geht zum Fenster. Sie vergewissert sich, dass es gut verriegelt ist und nur das kleine Kippfenster oben einen Spaltbreit offen steht, damit frische Luft hereinkommt. Den Spalt hat sie selbst ausgemessen, um ganz sicher zu sein, dass niemand einen Arm hindurchstecken kann. Ich dachte immer, sie habe Angst vor Einbrechern, bis ich eines Tages begriff, dass sie die Jäger fürchtete.
In ihrem Nachttischchen ist eine Pistole versteckt. Mina Ma hat mir einmal gesagt, die Meister hätten sie ihr zu meinem Schutz gegeben. Es fällt mir schwer, das zu glauben. Die Meister sind für mich schon immer etwas Dunkles und Böses. Die Vorstellung, es könnte etwas noch Schrecklicheres geben, scheint mir absurd. Die Meister sind mein Anfang und mein Ende. Sie haben mich geschaffen und sie können mich wieder auslöschen.
Mina Ma rüttelt prüfend am Fensterriegel. Dann kehrt sie zu mir zurück. Wir essen jeder einen Scone und ich stelle ihr eine Frage.
»Wie hättest du mich genannt, wenn ich dein Kind gewesen wäre?«
»Nicht schon wieder!« Mina Ma bläst die Backen auf und lässt die Luft entweichen. »Was bringen uns diese Was-wäre-wenn-Spielchen?«
Ich schweige und sie sieht mich finster an. »Keine Ahnung«, sagt sie in einem Ton, der verrät, dass sie das Thema gründlich leid ist.
Ich heiße Amarra, wie meine Andere. Das bedeutet »Die Unsterbliche«. Aber ich wollte schon immer einen eigenen Namen haben. Ich hasse es, wenn meine Vormünder mich Amarra nennen.
Erst letztes Jahr musste ich dieses alte indische Epos lesen, das Mahabharata . Danach wünschte ich mir, ich hieße Draupadi. Auch Draupadi verdankte ihre Entstehung ungewöhnlichen, ja abnormalen Umständen. Sie trat aus dem Feuer, als Geschenk der alten Götter an ihren Vater. An meiner Geburt waren zwar keine Hindu-Götter beteiligt, aber die Gemeinsamkeiten gaben mir trotzdem ein wunderbares Gefühl von Bedeutsamkeit.
Sean fand den Namen nicht gut und machte auch keinen Hehl daraus. Ich kannte ihn damals erst seit einigen Wochen, und er sagte nur herzlos, Erik und Ophelia würden den Namen bestimmt zu Drauli oder etwas Ähnlichem verkürzen und das klinge nun überhaupt nicht bedeutend.
Auch Mina Ma sprach sich entschieden dagegen aus. »Draupadi hatte ein trauriges Leben. Fünf Ehemänner gleichzeitig, bei Shiva, was für ein Skandal! Und das viele Blutvergießen! Nein, damit würde ich an deiner Stelle nichts zu tun haben wollen.«
»Vielleicht will ich ja fünf Männer«, sagte ich lachend.
»Vielleicht wirst du gar nicht gefragt«, erwiderte Mina Ma.
Ich hörte auf zu lachen und machte ein böses Gesicht. Darüber musste wiederum Sean lachen. »Fünf Männer?«, sagte er. »Bei deinem Temperament kannst du von Glück reden, wenn du einen abbekommst, Drauli.«
Damals beschloss ich, dass wir Freunde sein würden.
Nach einem zweiten Scone und einem langen Vortrag darüber, dass es in England keine guten Mangos zu kaufen gebe, steht Mina Ma auf. »Es ist schon spät«, sagt sie. »Schlaf jetzt.«
»Ich muss noch Hausaufgaben machen. Und ich kann bestimmt sowieso nicht einschlafen.«
»Also
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