Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Lust dazu hat. Sie kann mich nicht leiden.
Erik hustet. »Es steht bestimmt im Tagebuch.«
»Kannst du es mir nicht gleich sagen?«, frage ich und verknote meine Finger.
Er zögert. Dann: »Sie hat jetzt ein Tattoo.«
Mir wird flau im Magen. »Wo?«
»Am linken Handgelenk. Innen, zwischen der Hand und der Stelle, an der man eine Uhr trägt. Unter den Papieren ist irgendwo ein Foto.«
»Erik«, sage ich und meine Stimme bricht, »Erik, du hast es mir versprochen. Weißt du noch, als der streunende Hund sie in den Bauch gebissen hat? Ich hatte Angst, ich müsste mich auch von einem Hund beißen lassen, nur um zu sein wie sie, aber dann hast du gesagt, Narben zu übertragen sei nicht erlaubt.«
»Ja, dafür habe ich vor zwanzig Jahren gekämpft«, sagt Erik leise. »Dass euer Körper euch gehört. Dass die Meister euch nicht dazu zwingen dürfen, auch Verletzungen und intime Erlebnisse zu übernehmen. Das ist zu grausam. Auf mein Bitten hin haben sie damals beschlossen, dass in solchen Fällen eine Beschreibung der Erlebnisse genüge.«
»Aber dann ist das …«
»Das ist ein Tattoo und somit erlaubt. Es ist eine Veränderung, die sie selbst wollte und die weder ihr noch dir schadet.«
Ich denke an die Nadeln, die ich im Fernsehen gesehen habe, und stelle mir eine solche Nadel in meinem Blut vor, wie sie Tinte in meine saubere, weiße Haut spritzt. Es wäre ja in Ordnung, wenn ich das Tattoo selbst wollte. Aber nicht so.
Ich weiche zurück. »Das mache ich nicht«, sage ich.
»Du musst«, sagt Erik ganz ruhig.
Ich nehme die Tagebuchseiten und blättere sie hektisch durch, bis ich die gesuchte Stelle finde.
Habe mir heute ein Tattoo stechen lassen. Es hat viel mehr wehgetan, als ich dachte.
Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass meine Kiefer schmerzen. Ich weiß, dass es wahrscheinlich nicht stimmt, dass es nicht zu ihr passt, trotzdem stelle ich mir vor, wie sie triumphiert. Weil sie tun kann, was sie will, während ich mich mit dem Ergebnis abfinden muss. Sie gewinnt immer.
Wütend zerknülle ich die Seiten mit dem Eintrag und werfe sie durch das Zimmer.
»Das war kindisch«, sagt Erik.
»Na und?«, erwidere ich. »Das macht mich wenigstens ein bisschen menschlich.«
»Es ist ein sehr schönes Tattoo«, beharrt Erik. »Klein, filigran, genau wie du. Es könnte dir gefallen.«
»Ich weiß nicht, warum sie ein Tattoo wollte«, sage ich aufgebracht, »aber mich wird es immer daran erinnern, was ich bin und nicht sein kann. Ich werde es immer hassen. Immer und ewig.«
»Ich weiß, dass du das nicht gern hörst«, sagt Erik, »aber sie ist nun mal der Grund, warum es dich überhaupt gibt. Du bist sie, du musst sie sein, sonst hat das alles keinen Sinn.« Sein Gesicht wird wieder freundlicher. »Es bringt nichts, sich deshalb aufzuregen. Denk nicht mehr daran, bis es so weit ist.«
Später, als er gegangen ist, beobachte ich draußen den Sonnenuntergang. Der Sommer ist fast vorbei. Ich streiche über die weiche, durchscheinende Haut an meinem Handgelenk. Sie fühlt sich kühl und glatt an, aber in meiner Vorstellung ist sie unrein, sie gehört nicht länger mir, sondern meiner Anderen, und sie brennt.
2. Gesetze
M ina Ma hat Mitleid mit mir. Ich weiß das, weil sie an diesem Abend mit einem Tablett frisch gebackener Scones und Clotted Cream in mein Zimmer kommt.
Ich versuche mich auf Romeo und Julia zu konzentrieren, über die ich einen Aufsatz schreiben soll, aber es gelingt mir nicht. Ich muss immerzu an das Tattoo denken. Es ist im Grunde albern, sich darüber aufzuregen. Viele Leute lassen sich Tattoos stechen. Aber es geht um die Botschaft, die meine Andere mir damit sendet und die ich so unerträglich finde. Wahrscheinlich hasst sie mich genauso wie ich sie.
Ich streiche über die unberührte Haut meines Handgelenks. Ich zähle nicht, nur sie.
In meinem Kopf schiebt sich vor das Bild des Tattoos ein anderes: ein schwarzes Mal, eine kleine Spirale, die nach oben in einer gezackten Linie ausläuft. Ich denke immer, das Mal sieht aus wie ein Blitz und ein kleines »e«. E für Echo. Ich trage es seit meiner Geburt auf der Haut im Nacken, deshalb habe ich es nie gesehen. Aber ich weiß, wie es aussieht.
Ich weiß nicht, wie ich ein besseres Echo werden kann. Wie ich aufhören kann, mich zu wehren und alles abzulehnen, was meine Andere tut. Ich weiß so vieles nicht. Ich kenne nur die kalten Morgenstunden, den Wald, den See und die kleine Stadt namens Windermere. Meine Nenneltern leben
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