Lost Girl. Im Schatten der Anderen
meiner Welt, von der jahrhundertealten Meisterei in London und den Meistern, die dort Echos erschaffen.
Und jedes zweite Wochenende kommt Sean für zwei Tage zu Besuch. Von ihm lerne ich, wie normale Jugendliche in unserem Alter leben. Ich muss vorbereitet sein, falls ich weggeschickt werde, um das Leben meiner Anderen zu leben.
»Hast du deine Hefte für Erik geholt?«, fragt Mina Ma und tritt aus der Küche.
Ich zeige auf den Stapel vor mir. Mina Ma wirft einen Blick auf die Uhr und beschließt, dass ich vor dem Unterricht noch lernen soll, wie man einen Knopf an ein Kleid annäht.
»Kinderleicht«, spotte ich.
Sie gluckst. »Wenn du deine Finger stillhalten kannst, bis du den Knopf angenäht hast, fresse ich einen Besen.«
Es wäre zu schön gewesen, wenn sie das hätte zurücknehmen müssen, aber sie behält wie immer Recht. Schon das Einfädeln der Nadel bereitet mir Schwierigkeiten.
Als Erik eine Stunde später kommt, sitze ich auf dem Sofa – bereit für den Unterricht. Ich sehe ihn so artig an, dass er in der Tür stehen bleibt. Erik ist Ende fünfzig. Er ist groß, hat braune Haare und Augen, die so blau sind wie das Meer im Süden. Ihm gelingt alles. Er ist der Einzige von uns, auf den die Meister hören.
»Was willst du von mir?« Er klingt resigniert, zwinkert mir aber lächelnd zu. »Ich glaube, ich will es lieber gar nicht wissen.«
»Ein Pony.«
»Ein Pony«, wiederholt er, ohne eine Miene zu verziehen. »Wird sofort erledigt.«
Ich lache, zögere aber noch, Erik auf den Zoo anzusprechen. Meine Andere hat im vergangenen Monat mit der Schule einen Ausflug in den Zoo gemacht, ich dagegen musste mich mit Fotos und einer Beschreibung begnügen. Ich öffne den Mund, um Erik zu fragen, ob ich einen der Zoos im Umkreis von Windermere besuchen darf – nur um besser nachfühlen zu können, was sie erlebt hat, Erik. Das wäre eine Lüge, ich will nur die exotischen Tiere ansehen, aber die Worte bleiben unausgesprochen.
Schuld daran ist Eriks Gesichtsausdruck. Etwas Seltsames passiert. Es ist, als würde ein Licht ausgeknipst. Seine Fröhlichkeit, sein Lächeln, alles erlischt wie auf Knopfdruck.
Ich kenne das schon und es bedeutet nichts Gutes. Ich setze ein entsprechendes Gesicht auf und sehe ein wenig ängstlich zu, wie er einen dicken Umschlag auf den Tisch legt.
Offiziell ist Erik ein Vermittler. Er spricht als Einziger von uns mit meinen Nenneltern. Dazu benutzt er sichere E-Mails und Prepaid-Telefone, damit die indischen Behörden nichts erfahren. Wir müssen aufpassen, weil Echos in Indien nicht erlaubt sind und meine Nenneltern dafür, dass sie mich in Auftrag gegeben haben, ins Gefängnis kommen könnten. Sie schicken Erik Schulzeugnisse, Beschreibungen von Ereignissen wie Geburtstagen und Fotos. All die kleinen Details aus dem Alltag meiner Anderen, die ich kennen muss, wenn ich sie sein will.
Und ich lerne alles. Ich lerne, bestimmte Menschen genauso zu mögen wie sie, zumindest versuche ich es, auch an Tagen, an denen ich am liebsten alle hassen würde.
Ich hätte schon vor Jahren aufgegeben, wenn Erik mich nicht zum Durchhalten ermutigt hätte. Wenn ich Fragen habe, versucht er, sie zu beantworten. Er hilft mir, die Vorschriften zu verstehen und was es mit der Meisterei auf sich hat. Vor neun Jahren hat er mir gesagt, was ich bin. Er hat mir von den Meistern in London erzählt. Davon, wie ganz normale Menschen bei den Meistern ein Echo bestellen können, weil ihnen die Vorstellung unerträglich ist, einen geliebten Angehörigen zu verlieren. Die Meister brauchen zur Erschaffung eines Echos Wochen, manchmal sogar Monate. Wenn sie fertig sind, leben und atmen wir. Als Echos. Und sollten eines Tages unsere Anderen sterben, ersetzen wir sie.
Bis dahin lernen wir, wie sie zu sein.
Ich presse die Lippen zusammen. »Was? Was ist passiert?«
Erik öffnet den Umschlag und breitet den Inhalt auf dem Tisch aus. Zuerst die Wochenlisten: was gegessen, getrunken, angesehen und gelesen werden muss. Als Nächstes eine CD mit einer Tonaufnahme meiner Anderen. Ich muss sprechen lernen wie sie, was mir allerdings nicht besonders gut gelingt. Sie spricht einige Laute anders aus als ich und für manche Dinge verwendet sie andere Wörter.
Unter den Papieren auf dem Tisch befinden sich auch einige Seiten »Tagebuch«. Darin schreibt sie auf, was sie in der vergangenen Woche getan hat und redet eher unbeholfen über sich, ihre Freunde und ihre Familie. Sie muss das tun, man spürt, dass sie keine
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