Lost Girl. Im Schatten der Anderen
lange«, sage ich. »Und ich glaube, du hast mir gerade einen gegeben.«
»Welchen denn?«
Ich lächle. Endlich habe ich etwas, was nur mir gehört.
»Eva.«
4. Eine Geschichte
I n Lancaster steigen wir aus dem Zug und gehen zu Fuß zu Seans Haus. Es dauert nur zehn Minuten. Der Weg führt über eine Brücke, zwei gepflasterte Gassen und eine von alten, schmucken Stadthäusern gesäumte Straße entlang. Sean geht bis zum drittletzten Haus der Straße und kramt einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Neugierig betrachte ich das Haus. Unglaublich, dass ich in all den Jahren, die ich Jonathan kannte, kein einziges Mal gesehen habe, wo er wohnt. Wo Sean wohnt. Oder auch Erik oder Ophelia. Wenn sie meine Welt betreten, lassen sie ihre zurück.
Hoffentlich ist Seans Mutter nicht da. Nach einigen Andeutungen von Jonathan hatte ich stets das Gefühl, dass sie mich nicht mag.
Von Lucy ist sie bestimmt begeistert.
Als ich das Haus betrete und den schwachen Geruch von Zigarren wahrnehme, schnürt es mir die Kehle zu. Selbst neun Monate nach Jonathans Tod fühlt es sich immer noch so an, als sei er anwesend.
Der Geruch erinnert mich an die späten Abende bei uns zu Hause, wenn er mit seiner Zigarre auf der Treppe vor dem Haus hockte. Ophelia saß neben ihm und suchte in ihrer Handtasche nach einer Zigarette. Der Geruch des Rauches wehte ins Haus und vermischte sich mit Mina Mas Handcreme und dem in der Küche aufgebrühten Tee. Ich stand im Schlafanzug vor meiner Tür und hörte zu, wie sie leise über Erwachsenensachen redeten. Gelegentlich lachte Erik über eine Bemerkung der anderen. Darauf wartete ich immer. Wenn Erik lachte, war alles in Ordnung.
Und eines Tages, einfach so, wehte kein Zigarrenqualm mehr durch die Tür und es waren nur noch drei von ihnen übrig. Und ihre Stimmen klangen anders, nicht mehr wie ein beruhigendes Schlaflied, sondern neu und, am Anfang, befremdlich.
Schon lange habe ich Jonathan nicht mehr so heftig vermisst.
»Ich weiß«, sagt Sean, als könnte er meine Gedanken lesen. »Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, geht es mir genauso. Ich glaube, Mum zündet manchmal seine alten Zigarren an.«
»Es muss schwer sein loszulassen.«
»Ich glaube, dass man die Menschen, die man liebt, niemals loslässt.« Sean legt seine Schlüssel in eine Schale neben der Tür. »Dafür bist du doch der beste Beweis.«
»Aber ist das richtig?«
»Keine Ahnung. Vielleicht gibt es kein Richtig.«
Ich überlege. »Vielleicht nicht.«
»Jedenfalls«, sagt Sean und deutet mit einer unbestimmten Handbewegung auf das Wohnzimmer, in dem wir stehen, »hier wohne ich. Wir …« Er bricht ab, denn er sieht, wie mein Blick über das Bücherregal wandert und an einem ganz bestimmten Buch hängen bleibt.
»Vergiss es.«
Es handelt sich um den Roman Frankenstein und er ist streng verboten. Aber er sieht so verlockend aus, dass ich ihn aus dem Regal reißen und in einem Zug durchlesen will.
»Du kannst nicht erwarten, dass ich wegsehe, wenn er direkt vor meiner Nase steht und mich anstarrt.«
»Ich kann ihn verstecken, wenn du willst«, sagt Sean. Mein flehender Blick lässt ihn kalt. »Dieses Gesetz darfst du nicht brechen. Es ist dir nicht erlaubt, das Buch zu lesen. Die Meister würden mir den Kopf abreißen, wenn ich es zuließe. Und weiß Gott, was sie mit dir anstellen würden.« Er tritt zum Regal und zieht das Buch heraus. »Du willst also Eva heißen?«
Ein furchtbar plumper Versuch, das Thema zu wechseln, aber ich lasse es ihm durchgehen. »Ja. Ich finde, der Name passt zu mir.«
Er sieht mich mit schräg gelegtem Kopf an. »Finde ich auch. Ich bin schon auf Minas Gesicht gespannt, wenn du ihr davon erzählst.« Er grinst hinterhältig.
Ich strecke ihm die Zunge heraus, bin aber zugegebenermaßen ein wenig nervös, was Mina Mas Reaktion betrifft. Mir einen Namen zu geben, passt überhaupt nicht zu dem, was man von mir erwartet. Was Mina Ma und Erik und Ophelia wohl dazu sagen werden?
»Wir haben noch eine halbe Stunde bis zum nächsten Zug«, sagt Sean. »Willst du etwas trinken?«
»Ja bitte«, sagte ich, den Blick immer noch auf Frankenstein gerichtet.
»Dann setze ich Tee auf.«
Er geht und nimmt das Buch mit. Er weiß, dass ich keine Skrupel habe, wenn ich neugierig bin.
Während er weg ist, sehe ich mich um. Ich betrachte die Zeitschriften, die in einem Stapel auf dem Couchtisch liegen, und die ordentlich aufgereihten Bücher in den Regalen. Das Haus ist aufgeräumt, aber nicht steril,
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