Lost Girl. Im Schatten der Anderen
es wirkt bewohnt. Auf dem Kaminsims über dem Feuer stehen gerahmte Fotos. Ein jüngerer Jonathan und eine blonde Frau am Tag ihrer Hochzeit, Sean als Baby, Jonathan und Sean am Meer, Sean und eine Gruppe von Jungs in Fußballtrikots.
Sean lässt so vieles in seinem Leben zurück, wenn er zu uns kommt. Er opfert dafür alles Mögliche, die ganze Zeit, in der er ein normaler Junge sein könnte, die Zeit, die er mit Lucy oder seinen Freunden verbringen könnte.
Ich höre ihn hinter mir ins Zimmer zurückkommen. Die Tassen in seiner Hand klappern, aber ich drehe mich nicht um. »Warum kommst du eigentlich zu uns?«, frage ich leise.
Ich spüre, wie er hinter mich tritt, höre seine Stimme an meinem Ohr. »Weil er mich darum gebeten hat.«
Das überrascht mich so, dass ich mich umdrehe. Ich sehe, dass Sean für sich keinen Tee gemacht hat, sondern nur ein Glas Milch. Er trinkt gern kalte Milch.
»Jonathan hat dich gebeten, seinen Platz einzunehmen?«
Sean nickt. »Als er zu krank zum Arbeiten war, fragte er mich, ob ich an seiner Stelle gehen würde. Er wusste nicht, wer sonst dein neuer Vormund werden würde, und hatte Angst, es könnte jemand sein, der nicht nett ist und den Meistern von jedem Fehler, den du machst, berichtet. Ophelia soll das ja eigentlich auch, aber wir wissen beide, dass sie es nicht tut. Dad glaubte, ich wäre für dich die beste Lösung.«
»Aber es war nicht fair, dich darum zu bitten. Er war doch schon so schwer krank und wusste, dass du bestimmt nicht ablehnen würdest.«
»Ich hätte ablehnen können.«
Ich lächle. »Hast du aber nicht. Du hättest es nie getan.«
»Es ist ja auch nicht so schlimm, wie man vielleicht denkt«, fügt Sean hinzu. »Ich sollte ihn nur bis zu seinem Tod vertreten. ›Wenn ich nicht mehr da bin‹, sagte er, ›kannst du damit aufhören, wenn du willst. Aber vielleicht stellst du ja fest, dass du das gar nicht willst.‹«
»Du hast nicht aufgehört.«
»Nein«, sagt Sean. »Ich habe weitergemacht.«
Ich sehe ihn aufmerksam an.
»Warum?«
»Wir müssen los«, sagt er und sieht an mir vorbei auf die Uhr. »Sonst verpassen wir den Zug. Trink deinen Tee aus.«
Ich will auf meiner Frage beharren, tue es aber nicht. Meine Nerven flattern und ich trinke rasch den Tee, um sie zu beruhigen.
»Eva«, sagt Sean.
Ein Kribbeln durchläuft meinen Körper, als ich meinen neuen Namen höre. Ich blicke zu ihm auf und meine Haut glüht wie der heiße Tee.
»Ich mag nicht, was sie mit dir machen«, sagt Sean. Er hebt mein Handgelenk hoch und dreht es so, dass der schmale, zarte Hautstreifen zu sehen ist, auf den mein Tattoo kommt. »Aber dich mag ich dafür umso mehr.« Die Berührung seiner Finger ist so leicht, als bildete ich sie mir nur ein. Mein Puls unter seinem Daumen geht schneller.
»Nicht«, sage ich verwirrt und ziehe das Handgelenk zurück.
Er lässt meine Hand los. »Ich wollte nicht …«
Natürlich nicht. Warum auch?
»Ich weiß.« Ich zwinge mich zu einem fröhlichen Lächeln, aber es gelingt nur halb. »Ich habe nur einen elektrischen Schlag bekommen, das ist alles.«
Es klingt lahm, aber Sean kommentiert es nicht. »Okay«, sagt er nur. »Können wir gehen?«
Bei unserer Rückkehr nach Windermere ist es noch hell draußen, aber das streifige orange-goldene Licht zeigt an, dass der Tag zu Ende geht. Der Himmel sieht aus, als schmelze er.
Ich blicke auf die Uhr. Fast sieben. Es wird jetzt früher dunkel. Ich stecke die Hände in die Taschen meiner Jeans, um sie zu wärmen. Was nicht mehr so leicht geht wie früher bei meinen alten Jeans: Die hier sind neu, es sind Röhrenjeans, die Amarra vor Kurzem für sich entdeckt hat.
Wir biegen um die Ecke und sind keine dreißig Meter mehr vom Haus entfernt, da packt Sean mich plötzlich am Ellbogen.
»Geh ganz ruhig weiter«, flüstert er mir ins Ohr.
»Aber …«
»Geh einfach«, zischt er ungeduldig.
Ich werfe einen raschen Blick in sein Gesicht. Es ist vollkommen ruhig. Hölzern. Ich folge seinem Beispiel und unterdrücke meine Aufregung. Ich gehe einfach weiter, werde nicht langsamer und bleibe auch nicht an unserem Haus stehen. Unauffällig sehe ich mich um und versuche zu entdecken, was Sean so nervös macht.
Vor uns liegt ein kleiner Park mit einem Kinderspielplatz. Ich war ein paarmal dort, wenn sonst niemand da war, denn ich sollte nicht mit anderen Kindern spielen. Jetzt ist er voller lachender Kinder und Eltern. Einige ältere Paare gehen spazieren. Die Straße ist von wenigen
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