Lost Place Vienna (German Edition)
während eine andere ihr die Waffe entwendete.
Der Maskierte sprang auf, wirbelte herum und streckte den
Schutzengel mit zwei Schüssen nieder, Valentina noch immer am Handgelenk
haltend.
Valentina schrie, wie sie es seit dem Tod ihres Großvaters nicht
mehr getan hatte, und trat dem Maskenspieler in die Hoden. Der knickte zusammen
und ließ ihr Handgelenk los. Mit einem weiteren Tritt gegen den Unterarm
entwaffnete sie ihn, und mit einem dritten Schlag wollte sie ihm den
Unterkiefer zertrümmern. Aber ihr Gegner hatte sich gefangen, tauchte unter dem
Fuß ab und packte ihren Unterschenkel.
Valentina kam aus dem Gleichgewicht und stürzte. Der Maskierte
sprang auf sie und begann sie zu würgen.
Valentina zappelte und trat unter dem Gewicht ihres Gegners. Aber
seine Hände schraubten sich immer mehr um ihren Hals. Sie starrte in die
dunklen Sehschlitze. Kälte kroch daraus hervor. Sie wand ihren Kopf, blickte
flehend zu den Kerzen. Aber sie flackerten nicht. Kein weiterer Schutzengel
würde kommen. Sie war am Ende. Die Finger des Maskenspielers würden gleich zu
Messern werden und ihr den Kopf vom Rumpf trennen.
Eine Wut mit der Kraft eines Vulkanausbruchs eruptierte in
Valentina. Sie hätte diese Wut in einen letzten Schrei umwandeln können, aber
sie schrie nicht, es wäre Verschwendung gewesen. Stattdessen schlug sie mit
beiden Handflächen gegen die Ohren ihres Widersachers. Er jaulte vor Schmerz
auf und löste den Griff an ihrem Hals. Valentina bekam für einen Moment Luft,
aber ihr Gegner hatte sie wieder gepackt und drückte von Neuem zu. Ihr Blick
trübte sich, aber sie hielt dagegen. Es gelang ihr, mit der Kette der
Handschellen unter die Maske zu fahren und sie ihrem Gegner vom Gesicht zu
reißen.
Für einen Moment schien die Welt den Atem anzuhalten.
Es war Adler.
Auch er hielt inne und starrte Valentina an. Ohne Maske schien er
seine Kraft verloren zu haben. Valentina reagierte schneller. Sie nutzte den
Augenblick seiner Irritation, packte seinen Kopf und drehte ihn mit letzter
Kraft so weit, bis sie das Genick knacken hörte. Leblos sackte Adler auf ihr
zusammen.
Valentina war zu schwach, ihn von sich zu stoßen. Sie musste warten,
bis der Sauerstoff wieder in ihren Körper fand. Sie spürte an ihrem Bauch die
schusssichere Weste des Toten. Parizeks Kugel hatte ihn nicht verletzen können.
Er war gewappnet gewesen, natürlich. Für alle Fälle. Ein Superhirn eben und ein
hybrides Arschloch, das glaubte, ob seiner Intelligenz mit Menschen spielen zu
dürfen.
Valentina wälzte den Leichnam von sich, richtete sich auf und
erbrach sich.
Sie wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und dachte an eine
Sentenz von Balthasar Gracián, die Don Bernardo sie einst hatte auswendig lernen
lassen: »Ins Innere schauen. Man findet meistenteils die Dinge weit verschieden
von dem, was sie scheinen; und die Unwissenheit, welche nicht tiefer als in die
Rinde eingedrungen war, sieht, wenn man zum Innern gelangt, ihre Täuschung
schwinden. In allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich
ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit; die Wahrheit aber kommt immer
zuletzt, langsam heranhinkend am Arm der Zeit.«
Was waren seine Sprüche wert? War er das gewesen, was er schien?
Oder hatte auch er nur eine Neutralmaske getragen, auf die ein kleines Mädchen
sehnsüchtig ihre Projektionen geworfen hatte? Hatte nicht K. gesagt, Don
Bernardo hätte viele Schüler gehabt? War er nur ein Rattenfänger gewesen, der
unschuldige Seelen formte, damit sie irgendwann einer unbekannten Elite zu
Machterhalt und Machtgewinn dienten? War sie eine Schläferin, die geweckt
werden sollte? Und war auch Adler ein Schüler Don Bernardos gewesen? Der Prinz,
der sie wachküssen sollte? Sie drehte seinen Kopf zur Seite und klappte sein
rechtes Ohr nach vorne. Dort waren drei dunkelblaue Punkte tätowiert.
Ihr Schrei brach durch das Gewölbe. Valentina mochte es nicht
glauben. Sie riss am Gesicht Adlers, als würde sie an einer weiteren Maske
zerren. Sie wollte nicht wahrhaben, dass dieses Gesicht keine Larve war, schlug
schließlich verzweifelt darauf ein. Irgendwann rollte sie sich neben ihn und
blieb keuchend und erschöpft auf dem Boden liegen.
Ihren Blick zur Decke gerichtet, suchte sie im Schein der Kerzen
nach Bildern, die ihr alles erklären konnten. Nach Schatten, die Schlüsse auf
das Urbild zuließen.
Er hatte alles eingefädelt, von Anfang an. Er hatte so gut um sie
gewusst, dass er scheinbar der Passive gewesen
Weitere Kostenlose Bücher