Lost Place Vienna (German Edition)
Jahrhundertwein. Nun durfte man froh sein um
jeden Tropfen, den dieser Jahrgang aus sich herauspressen ließ.
Killian war nie ein großer Freund der Winzer gewesen. Da er nicht
als Eingesessener galt, sondern ein Kind der Arbeiter war, die im Zuge der
kleinen Industrie Bötzingens an den Kaiserstuhl gezogen waren, galt er als
»Plaschtiker«. Der Begriff war aus dem Hochdeutschen »Plastik« abgeleitet
worden, eine rotwelsche Kreation der Einheimischen. Das Unternehmen in
Bötzingen, das zunächst Nichtbadener und später auch Gastarbeiter angezogen
hatte, machte sein Geld mit der Fabrikation von Kunststoffteilen. Man begann
mit Bierkästen, Regentonnen und Haushaltswaren, dann spezialisierte man sich
auf Autostoßstangen. Was die Zukunft bringen würde, wusste niemand so recht.
Aber irgendetwas mit Plastik würde es schon sein.
Jedenfalls galt der Plaschtiker dem einheimischen Winzerkind als
natürlicher Feind, ebenso zu bekämpfen wie eine Reblaus, was auf dem Schulhof
manch blutige Nase mit sich gebracht hatte. Stibitzten die Plaschtiker die
dunkelroten Kirschen aus den Plantagen, hetzten die Winzerkinder die
Schäferhunde auf sie; naschten die Plaschtiker kurz vor der Weinlese von den
reifen Trauben, krachte Schrot aus den Flinten der Obsthüter. Wurde dabei einer
der Plaschtiker aus Versehen getroffen, zuckten die Winzer mit den Schultern;
schließlich hatten sie nur auf Krähen gezielt. Man musste eben flink sein und
durfte sich nicht erwischen lassen.
Killian befand sich noch immer auf der Straße, die von Oberbergen
nach Vogtsburg führte. Es ging nur im Schritttempo vorwärts. Immer wieder
sprudelten kleine Bäche, die sich ihren Weg durch den Löß gebahnt hatten, von
den Hängen und fluteten die Straße. Vor Killian schlichen noch vier andere
Autos hinter einem schweren Traktor her. Er genoss das Schneckentempo, dadurch
konnte er sich die Verwüstung besser ansehen. Er ertappte sich dabei, dass ein
Hauch Schadenfreude in ihm aufstieg. Allerdings rügte er sich auch gleich
dafür. Aber es war ein Reflex aus vergangener Zeit, als Plaschtiker und
Winzerkinder noch im Krieg gelegen hatten. Freunde waren sie zwar noch immer
nicht geworden, aber wen würde Killian schon einen Freund nennen? Vielleicht
Moshe. Aber selbst die Freundschaft mit Moshe bedurfte einer genauen
Definition, die viele Einschränkungen und Klauseln beinhaltete. Killian
verdrängte den Gedanken an Moshe. Von Moshe zu Rohina war es nur ein
Katzensprung, und den wollte er vermeiden, deswegen war er schließlich auch auf
dem Weg zu dem von Bärbel angepriesenen Wunderheiler.
Ein Hang, der sich aus einer Weinterrasse schälte und Zilden von
Rebstöcken unter sich begrub, half Killian, auf andere Gedanken zu kommen. Die
naturgewaltige Bewegung und der nachhallende Schall des Erdrutsches
faszinierten den Frontfotografen. Jetzt erst fiel ihm auf, dass es hier aussah,
als wäre Krieg. Nur dass es eben keine Schüsse und Granaten zu hören gab,
sondern das unaufhörliche Plätschern von Wasser.
* * *
Belledin stand vor dem großen Plakat eines nackten Menschen, über
dessen Körper bunte Linien gezeichnet waren. Auf den Linien saßen Punkte, die
mit Kürzeln versehen waren. Es handelte sich um die Meridiane der chinesischen
Medizin und deren Akupunkturpunkte. Belledin erinnerte es an einen
U-Bahn-Fahrplan.
Der Vergleich entlockte Belledin ein Grunzen. Er glaubte nicht an
den Schabernack. Als ihm bei einem Wettkampf mal ein Wirbel zu schaffen gemacht
hatte, war auch er zur Akupunktur gerannt. Die einstweilige Verbesserung
schrieb er allerdings eher der eigenen Einbildungskraft zu als den winzigen
Nadeln, die der Chinese ihm gesetzt hatte. Beim Wettkampf vertraute er dann
wieder dem traditionellen Voltaren.
Belledin wandte sich von dem Plakat ab und schlenderte durch die
Praxis. Warum schlitzte jemand mit einem Okuliermesser den Hals des
beliebtesten Heilpraktikers im Umkreis auf und ließ die Tatwaffe dann neben der
Leiche liegen? Ein Hinweis? Eine falsche Fährte? Ein Symbol?
Er setzte sich hinter den Schreibtisch und wartete. Er hatte sich um
dreizehn Uhr mit Hartmanns Assistentin Christa Faller hier in der Praxis
verabredet. Sie war die letzten zwei Wochen auf einem Intensivlehrgang für
Heilpraktiker in der Toskana gewesen und erst heute Morgen zurückgekommen.
Deswegen war es ihr auch nicht möglich gewesen, an Hartmanns Beerdigung
teilzunehmen. Und es sah ganz danach aus, als ob sie den Termin mit Belledin
ebenso wenig einhalten
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