Lost Place Vienna (German Edition)
Fronten.
Er setzte sich auf, sein Blick fiel auf eine Visitenkarte. Er nahm sie
in die Hand und überlegte, ob er einen Termin vereinbaren sollte. Bärbel hatte
ihm die Karte gegeben. Sie selbst war auch bei dem Typen in Behandlung, die
Hypnose würde ihr sehr helfen, hatte sie gesagt.
Killian atmete durch, schwang sich aus dem Sofa und warf sich seine
Jacke über. Er musste sowieso nach Bötzingen, weil er ein paar Fotos vom
dortigen Freibad schießen wollte. Früher war es für ihn der größte Spaß
gewesen, im Regen zu baden. Das Gefühl der völligen Nässe ließ ihn zum Fisch
werden. Er schnappte seine Rolleiflex und öffnete das Schiebetor des Ateliers.
Wie ein Morlock, der aus der Unterwelt ans Tageslicht gekrochen kam,
blinzelte Killian in den zerrissenen Himmel. Die Fetzen, die sich die
Sonnenstrahlen bereits durch die Wolkendecke geschnitten hatten, blendeten ihn.
Er warf einen Blick auf die Kamera und überlegte einen Moment, ob das
Regenprojekt damit nicht beendet war. Aber das Schwimmbad wollte er doch noch
mit ihr fotografieren, ehe er wieder auf die digitale Nikon umsteigen würde. Das
Schwimmbad gehörte zum Element Wasser. Vielleicht krochen die Nebel aus den
überfluteten Wiesen, die das Schwimmbecken umgaben? Dann könnte er den Regen in
umgedrehter Bewegung fotografieren: von unten nach oben.
Er hatte lange nicht mehr mit der 6x6-Kamera fotografiert. Und zu
Beginn des Regenprojektes hätte er die Rolleiflex gerne mehrmals in tausend
Stücke zerbrochen. Zu ungewohnt war der Blick von oben, die spiegelverkehrte
Bewegung, um ein Objekt in Kadrage zu zwingen. Man musste sich Zeit nehmen, um
mit der 6x6 ein gutes Foto zu schießen. Sie forderte einen Umgang mit Zeit, die
Killians Temperament und der Art, wie er die letzten Jahre gelebt hatte, völlig
konträr lief. Jetzt war er stolz, dass er durchgehalten hatte.
Er legte die Kamera auf den Beifahrersitz seines Defenders, startete
den Wagen und fuhr langsam durch die überflutete Straße.
Aus den Kanaldeckeln der Bruckmühlenstraße gurgelte noch das
Regenwasser. Die Männer der freiwilligen Feuerwehr und des technischen
Hilfswerks stapelten unermüdlich Sandsäcke vor den gefährdeten Kellerfenstern
des denkmalgeschützten Sandsteingebäudes. Ein Fotograf des Rebland-Kuriers
mühte sich redlich, einige spektakuläre Fotos von den Katastrophen des
Jahrhundertregens zu knipsen. Ein fülliger Feuerwehrmann stapfte durch die
Lachen, das Wasser floh unter dem schweren Tritt seiner Gummistiefel in alle
Richtungen, wusste aber nicht, wohin, und schwappte wieder zurück. Der
Feuerwehrmann hob die Hand über seinen Helm und versperrte Killian mit diesem
Zeichen die Durchfahrt.
Killian bremste und kurbelte das Fenster herunter.
»Do geht’s nit durch.« Um seine Ansage zu untermauern, schüttelte
der Feuerwehrmann seinen behelmten Kopf mehrere Male so heftig, dass auch sein
wuchtiges Doppelkinn in Bewegung geriet und Killian schon befürchtete, die
Flugkraft des Kinns würde dem armen Mann am Ende das Genick brechen.
»Ich muss nach Bötzingen, wie komme ich da hin?«, fragte er.
Die Masse des Doppelkinns beruhigte sich, dafür begannen nun die
Hirnzellen des Feuerwehrmanns zu glühen. Er kratzte sich mehrmals am Helm,
schnaufte tief durch und begann den Kopf hin- und herzuwiegen, als beginne er
gleich einen indischen Volkstanz. Dann öffnete er endlich den Mund, setzte zum
Sprechen an, aber sein Funkgerät unterbrach ihn. Per Handzeichen bat er
Killian, sich noch einen Moment zu gedulden, nestelte an seinem Gürtel, an dem
das Funkgerät befestigt war, und lauschte, was die Zentrale ihm zu melden
hatte.
Killian beobachtete die Szene mittlerweile durch seine Rolleiflex.
Diesen Moment durfte er sich nicht entgehen lassen: der füllige Retter des
Infernos inmitten der überfluteten Dorfgasse. In der einen Hand ein
antiquiertes Funkgerät, die andere wild fuchtelnd zum Himmel gestreckt – als ob
er mit dem Herrn des Regens selbst verhandeln würde. Killian versuchte die
Einstellung während der einzelnen Schüsse nicht zu verändern und die Kamera so
ruhig wie möglich zu halten. Ein Stativ wäre jetzt angebracht gewesen. Er würde
aus den Fotos, die er von seinem Helden schoss, gerne ein Daumenkino machen, eine
Slapstick-Doku zum Anfassen. Er lachte in sich hinein, während er die Bilder
schoss.
Ein lautes Hupen schreckte ihn aus dem Sucher seiner Kamera. Hinter
ihm hatte es jemand besonders eilig. Ein schwarzer Jeep Cherokee Overland
rückte
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