Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
für Prellungen sie davongetragen hatte. Außerdem humpelte sie leicht.
»Bitte, Mylord, lassen Sie mich die Scherben aufheben.«
Betreten schaute er ihr zu. Noch nie hatte er sich für einen Nichtsnutz gehalten, aber nun fühlte er sich überflüssig und hilflos. Amys Vorhaltungen hatte er über sich ergehen lassen und sich lediglich mit spöttischen Bemerkungen zur Wehr gesetzt. Aber jetzt fragte er sich, ob sie in manchem Punkt nicht doch recht hatte. Benahm er sich vielleicht wirklich wie ein verzogener Junge, der die Schuld immer nur bei den anderen suchte?
Miss Victorine zog das Zinntablett zu sich und reichte Jermyn den Brief.
Er warf einen Blick auf das Schreiben und erkannte die Handschrift seines Onkels.
Kommentarlos schob er den Brief in seine Tasche.
Die alte Dame hob die Brötchen auf und säuberte sie von dem Staub. »Ich nehme gleich alles mit nach oben. Dann bringe ich Ihnen saubere Brötchen und gieße Ihnen frischen Tee auf.«
Sie war so genügsam, dass sie die schmutzigen Brötchen selbst essen würde.
Rasch hatte er zwei Brötchen ergattert. »Nein, ich werde die hier essen.«
»Nein! Mein guter Junge, Sie sind der ... Marquess von Northcliff.« Eine dicke Träne lief der alten Dame über die Wange und tropfte auf den staubigen Boden. »Sie müssten Beefsteak serviert bekommen und Erdbeeren und keine schmutzigen Brötchen.«
»Wenn ich während meiner Gefangenschaft etwas genossen habe, dann war es die Gelegenheit, einfache Mahlzeiten zu bekommen.« Herzhaft biss er in das Brötchen und merkte, dass er noch nicht den ganzen Schmutz von der Kruste geklopft hatte. Es knirschte zwischen den Zähnen. Tapfer ignorierte er die Körner. »Ich habe Ihre Kochkunst vermisst, Miss Victorine.«
Sie schniefte und tupfte die Wimpern mit ihrem Taschentuch ab. »Ich habe ihr gesagt, dass Sie ein netter Junge sind. Ich habe es ihr gesagt.«
Er kaute weiter und lächelte dabei so charmant, wie er nur konnte. Aber wie es schien, war Miss Victorine immer noch untröstlich, und Jermyn machte sich bewusst, dass seine Bemühungen zu vermitteln, etwas steif wirken mussten. Ganz so, als habe er seinen Charme schon lange nicht mehr spielen lassen.
»Miss Victorine.«
Sie schaute auf, und in ihrem Blick entdeckte er wirklich keine Anzeichen für Irrsinn oder Senilität. Doch in ihren Augen lag Einsamkeit. Und eine so tiefe Traurigkeit, dass er sich unvermittelt fragte, warum ihm das noch nicht früher aufgefallen war.
»Miss Victorine.« Er griff ihr unter den Arm und half ihr auf. »Heute Abend sollten Sie Ihr Weberschiffchen mitbringen und mir zeigen, wie man Spitzen mit diesen kleinen perlen verziert.«
»Sie machen sich doch überhaupt nichts aus Spitzen.« Wieder fiel ihr Blick auf den Scherbenhaufen, und ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Vielleicht nicht unbedingt, aber mir ist viel an Ihrer Gesellschaft gelegen. Hier unten ist es einsam, Miss Victorine, und wie es aussieht, werde ich noch ein bisschen länger bleiben müssen.« Die nun folgende Bitte kam aus der Tiefe seines halb verkümmerten, selbstsüchtigen Herzens. »Können Sie nicht die Abende gemeinsam mit mir verbringen?«
Miss Victorine horchte auf, schwieg aber weiterhin und sah wieder so traurig aus wie zuvor.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte er.
Mit leiser Stimme, in der Enttäuschung schwang, fragte sie: »Was ist mit Amy?«
»Sie kann natürlich auch kommen.« Er wollte sich höflich geben, selbst auf die Gefahr hin, dass er sich damit nur schadete.
Er tat es Miss Victorine zuliebe.
»Also.« Jermyn mühte sich mit dem kleinen Weberschiffchen, Unmengen Garn und Dutzenden kleiner Perlen ab. Seine Finger waren zu groß und ungeschickt. Das Garn blieb an seiner rauen Haut hängen. Wenn jetzt seine Freunde aus London sehen könnten, wie er hier unten mit zwei Frauen und einem Kater in einem Keller hockte und handarbeitete, würden sie sich den Bauch vor Lachen halten. »Was haben Sie als Nächstes vor?«
»Mit Ihnen, meinen Sie?« Amy zeigte auf seine Perlstickerei. »Sie haben eine Masche übersprungen.«
»Habe ich nicht.«
»Doch, haben Sie.«
»Lasst mich mal sehen.« Miss Victorine rückte den Zwicker auf ihrer Nase zurecht, beugte sich in den Lichtkreis der Lampe, hielt die Spitzen dann auf Armeslänge von sich und blinzelte.
Jermyn musste angesichts dieser Maßnahmen grinsen. »Miss Victorine, Sie brauchen neue Augengläser.«
»Ja, mein Lieber, da mögen Sie recht haben. Da.« Sie deutete auf den Stoff.
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