Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
Gesicht.
Unter seinen Blicken begann sie zu zittern.
Die Fußfessel war fort. Aber er war nicht fort. Er war immer noch hier, was nur einen Schluss zuließ: Irgendwann musste es ihm gelungen sein, sich zu befreien, und von da an hatte er sie zum Narren gehalten.
»Hast du dich verbrannt?«, fragte er.
»Ja, ich glaube, ich habe mich verbrannt ...«, erwiderte sie tonlos.
»An den Flammen?«
»Nein.« Sie hielt inne. Schließlich flüsterte sie: »Wie lange bist du schon ...?«
Sein Blick wurde durchdringender. »Seit ich dich das erste Mal geküsst habe.«
Das Zittern nahm zu. In ihrem Leben war sie bereits betrogen, bedrängt, verfolgt und verurteilt worden. Aber noch nie hatte sie sich derart verraten gefühlt. Sie hatte Verzückung in seinen Armen erlebt und die ganze Zeit geglaubt, dass er in ihrer Hand war, doch stattdessen ... hatte er insgeheim über sie gelacht.
Aus der Furcht, die eben noch kalt durch ihren Körper gefahren war, wurde nun ein Gefühl großer Demütigung.
»Amy. Oben habe ich den Mann zu Boden geschlagen, der den Schuss abgefeuert hat.« Jermyn machte eine bedeutungsvolle Pause, als wolle er Amy Zeit geben, die Tragweite seiner Worte zu erfassen. »Du musst mir helfen, ihn zu fesseln.«
Mit großen Augen starrte sie Jermyn an und konnte nicht fassen, was er sich herausgenommen hatte.
Sie wollte ihn umbringen. Ihn ermorden. Mordlust regte sich in ihr. Keine zehn Tage war es her, da hatte sie auf ihn geschossen, und hätte er sich nicht rechtzeitig geduckt, hätte sie ihn getötet. Aber die Wut, die sie an jenem Tag verspürt hatte, war nichts im Vergleich zu dem Zorn, der nun in ihr aufloderte.
»Amy, ich brauche deine Hilfe.« Seine eindringliche Stimme riss sie in die Wirklichkeit zurück.
Sie konnte ihn nicht töten. Das wäre töricht. Törichter als alle Dinge zusammen, die sie während der letzten vierzehn Tage gemacht hatte.
Sie könnte hingegen herausfinden, wer ihm nach dem Leben trachtete - und warum.
Auf jeden einzelnen Schritt bedacht, ging sie zur Treppe und nahm die erste Stufe.
Jermyn machte ihr Platz.
Sie hielt inne. »Nein, du zuerst.« Sie wollte nicht, dass er sie anfasste. Doch genau das war seine Absicht. Das sah sie in dem kurzen Aufflammen in seinen Augen, das Zorn verriet.
Was dachte er sich dabei, zornig zu sein?
Er wartete. Sie wartete. Schweigend trugen sie einen Kampf aus, eine Art Duell zwischen zwei willensstarken Menschen.
Unerwartet gab er nach und ging die Stufen hinauf zur Küche.
Sie wusste nicht, warum er nachgegeben hatte. Und es kümmerte sie nicht. Für sie zählte nur, dass er sich ihrem Willen beugte und sie nun nach oben gehen konnte, um sich den Folgen zu stellen, da ihr sorgfältig ausgeklügelter Plan endgültig gescheitert war - von einem Moment auf den nächsten hatte ein einziger Schuss alles zunichtegemacht. Immer noch von Wut und Kummer getrieben, folgte sie Jermyn nach oben.
In der Küche waren die Spuren eines Kampfes unübersehbar. Die Tür hing schief in den Angeln. Der Tisch war umgestürzt, ein Bein war abgebrochen. Die Vase war zersprungen und hatte den bewusstlosen Mann halb unter all den Scherben vergraben.
»Ich brauche ein Seil.« Jermyn kniete neben dem Mann und drehte ihn auf den Bauch.
Amy nahm eins von Miss Victorines Schultertüchern. Es bestand aus dünn gewebter Baumwolle, war lang und schmal und wurde um die Schultern gelegt und vorn an der Brust zusammengebunden. Sie reichte es Jermyn, wobei sie Acht gab, nicht mit ihm in Berührung zu kommen.
Jermyn nahm das Tuch an beiden Enden, schlug es so lange um die eigene Achse, bis es ein schmales Band war, und fesselte damit die Hände des Eindringlings. Dann drehte er ihn wieder auf den Rücken und schaute zu Amy auf. »Kennst du diesen Kerl?«
Der Bursche hatte braunes Haar, eine pockennarbige Haut und ein schmales Gesicht mit fliehendem Kinn. Er hatte eine Beule an der Schläfe und ein dunkel umrandetes Auge. Seine Kleider waren billig und schienen ihm nicht recht zu passen. Um den Hals trug er einen braunen Schal, um die Schultern einen schwarzen, knielangen Umhang. Hals und Ohren waren schmutzig.
Er sah wie all die anderen Schurken aus, die ihr bereits über den Weg gelaufen waren. Sie schüttelte den Kopf. »Den habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht.«
Obwohl Amy sich längst an Jermyn gewöhnt hatte, wirkte er hier oben in der Küche so ganz anders: größer, breiter, Herr der Lage.
Denn sie hatte die Kontrolle längst verloren.
Sie
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