Lost Princesses 02 - Ketten Der Liebe
Mund.
Unerwartet fing Jermyn ihren Blick ein. Entschlossenheit flammte in seinen braunen Augen auf. Die Lippen, die sie erst kürzlich geküsst hatte, waren zu einer schmalen Linie geworden; streng reckte er das markante Kinn vor. Nun war er nicht mehr länger ihr Gefährte an langen Abenden, der gebändigte Liebhaber der vergangenen Nacht. Er war der Marquess von Northcliff. Nicht nur ein Mann, sondern auch ein Herr.
Gewiss hielt er sich selbst für ihren Herrn.
Wie sollte es auch anders sein? Sie hatte törichterweise Anspruch auf ihn erhoben - aber er war keineswegs bereit, von irgendjemandem in Anspruch genommen zu werden. Er war der Marquess von Northcliff. Als Prinzessin von Beaumontagne wäre sie ihm womöglich gesellschaftlich gewachsen. Und als Frau, die ihn in Ketten gelegt hatte, hatte sie zunächst noch das Sagen gehabt, aber nun war sie bloß Miss Amy Rosabel. Die einfache Miss Rosabel, die ihn entführt, eingesperrt, angekettet und verführt hatte. Jetzt war er frei. Er war der Herr. Sie war nicht einmal Engländerin. Sie war eine Fremde ohne Familie, eine Verbrecherin.
Wenn er es wünschte, könnte er ihre Hinrichtung veranlassen. Selbst wenn sie sich an den Botschafter von Beaumontagne wandte, könnte Jermyn sich weigern, die Nachricht weiterzuleiten.
Denn warum sollte er glauben, dass sie eine Prinzessin war? Ihre Großmutter würde ihr vermutlich jetzt sagen, dass eine wahre Prinzessin sich nie von einem Mann wie Jermyn hätte täuschen lassen.
Amy hatte schon Kälte, Nässe, Schmerz und Hunger ertragen. Aber sie konnte nicht tatenlos Zusehen, wie sich die Schlinge um ihren Hals zuzog. Jetzt galt es, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Rasch griff sie nach dem Wasserkrug und schüttete dem Mann das kalte Wasser ins Gesicht ... der Schwall traf Jermyn, der noch neben dem Kerl kniete, genau in Schoßhöhe und an den Beinen.
Zischend sog er die Luft ein. Sein zorniger Blick flog zu ihr, als er sich erhob ... bedrohlich, verärgert.
Der Mann am Boden prustete und rief: »Hey, was soll das?«
Mit einem letzten übellaunigen Blick in Amys Richtung kniete Jermyn sich wieder neben den Unbekannten. Unsanft packte er ihn am Kragen und zog den Mann vom Boden hoch, sodass die beiden beinahe Nase an Nase waren. »Wer hat dich geschickt?«, fuhr Jermyn ihn an.
»Was?« Der Bursche gab vor, nur halb bei Bewusstsein zu sein.
Jermyn drückte ihn hart zu Boden, riss ihn dann wieder hoch und schüttelte ihn wie ein Terrier, der seine Beute nicht mehr loslässt. »Du kannst mir nichts vormachen. Wer hat dich geschickt?«
Der Kopf des Mannes wippte auf und ab. »Weiß ich nicht.«
»Du hast deine Gelegenheit gehabt«, stieß Jermyn zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mit zorniger Miene legte er dem Mann die Hände um den Hals und drückte ihm die Luft ab. Hilflos trat der Kerl um sich, und seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen.
Die aufflammende Gewalt erschreckte Amy.
Es erschütterte sie, wie gewalttätig Jermyn in seinem Zorn war. Unlängst hatte sie in ihm einen Mann gesehen, dessen Ausstrahlung sie erlegen war, und obwohl er sich zu Beginn seinen Unmut hatte anmerken lassen, hatte er sich immer unter Kontrolle gehabt. Aber nun wurde ihr schlagartig bewusst, dass er mehr war als das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte: Er war ein Herr, der Befehle erteilte und nicht davor zurückschreckte, seinen Willen mit allen erdenklichen Mitteln durchzusetzen. Irgendwie hatte er sein wahres Wesen vor ihr verborgen.
Wie gebannt sah sie zu, wie er den Kerl würgte, doch dann konnte sie es nicht länger ertragen. Mit einem Schritt war sie bei Jermyn und packte ihn am Handgelenk. »Hör auf!«
Er lockerte den Würgegriff tatsächlich. Doch dann nahm er die Enden des braunen Schals und wartete, bis der Unbekannte wieder Luft bekam. »Ich wollte dich töten. Die Dame hat etwas dagegen. Dein Leben steht auf Messers Schneide. Also, zum letzten Mal: Wer hat dich geschickt?«
»Weiß ich nicht«, entgegnete der Mann aus heiserer Kehle. »Ich schwöre Ihnen ...«
Jermyn zog fester an den Enden des Schals.
Der Bursche setzte sich verzweifelt zur Wehr, trat um sich, keuchte und prustete.
Jermyn drückte ihm das Knie in die Magengrube.
Auf ihren Reisen durch England hatte Amy mit ansehen müssen, wie Leute geschlagen und gehängt wurden. Nie hatte das rücksichtslose Vorgehen sie so schockiert wie jetzt. Sie hatte Jermyn für einen Müßiggänger gehalten, einen nichtsnutzigen Adligen, aber nun
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