Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
hat sich laut dem Statistischen Bundesamt in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht, auf nun etwa 500 Fälle in Deutschland pro Jahr.
Die Entscheidung für eine Abtreibung ist immer eine individuelle, eine schwere Entscheidung. Jede verändert unsere Gesellschaft, Stück für Stück. Ein gesundes Kind ist noch immer eine Gnade, da sind sich alle einig. »Hauptsache, gesund.« Doch ein krankes oder behindertes? »Das muss doch heute nicht mehr sein« – diesen Satz haben schon viele Eltern behinderter Kinder gehört. »Wussten Sie das nicht vorher?« Die Frage impliziert, dass man es hätte wissen können und sollen. Sie sagt auch, dass es das Kind eigentlich nicht geben sollte. »Haben Sie das zu spät gemerkt?« Wir arbeiten daran, das Schicksal abzuschaffen – und wir glauben, wir hätten es schon fast geschafft.
Natürlich wird es immer behinderte Menschen geben. Nicht alles kann vorab entdeckt werden, und nach der Geburt fangen die Gefahren erst an: Krankheiten, Unfälle, Stürze. Doch auch wenn unser Gefühl von Kontrolle eine Illusion ist – reicht diese Illusion schon, um uns zu verändern? Was verlieren wir, wenn wir glauben, Behinderungen und Krankheiten ließen sich verhindern? Worin bemessen wir den Wert eines Lebens – in Leistung? Wir rennen durchs Leben, als gäbe es am Ende eine dicke gelbe Ziellinie, über die wir alle rübermüssen. Was ist mit unseren Kindern? Englisch mit drei, Hockey mit vier, Lyrikkurs in der ersten Klasse. Stolpern darf keiner, langsamer werden auch nicht. Wollen wir das? Was ist mit denen, die im ewigen »höher, besser, mehr« keine Chance haben? Können wir von ihnen vielleicht etwas lernen – darüber, was im Leben wirklich zählt? Was ist es, das uns am Anderssein so viel Angst macht, dass wir fürchten, unsere eigenen Kinder nicht lieben zu können?
Seit drei Jahren steht meine Welt kopf. Alles, was mir selbstverständlich schien, hängt nun schief. Ich muss die großen Fragen lösen, um im Kleinen weitermachen zu können.
Mein Sohn sagt, Lotta kann krabbeln. Mein Bäcker fragt, ob wir das nicht vorher wussten. »Willkommen in der Minderheit«, sagt mein Mann.
»Ja«, sage ich. »Wie sind wir hierhergekommen?«
1
»Stimmt etwas nicht?«
Vom Leben davor und einem Ultraschall
Ich schaue in die Fenster meiner Nachbarn, während ich vorbeilaufe. Es ist noch früh, im Dunkeln leuchten die Häuser wie Puppenstuben. In Nr. 40 sitzen sie noch am Frühstückstisch. Als sie rüberschauen, senke ich den Kopf. Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass wir hier alle wie in Guckkästen leben. Soll ich winken?
Es ist der 19. Oktober 2009. Wir sind vor knapp einem Jahr in dieses Viertel Kölns gezogen. Unser neues Haus steht nur ein paar Straßen von unserer alten Wohnung entfernt und doch fühlt es sich an, als seien wir von der Großstadt aufs Dorf gezogen. Alte Reihenhäuser mit spitzen Giebeln, im ersten Stock zwei Kinderzimmer, kleine Gärten, alte Bäume. Im Keller haben wir einen Bunker mit einer schweren Stahltür. In den Vierzigerjahren haben sich dahinter Menschen versteckt und auf das Heulen der Bomber gelauscht. Heute lassen wir dort zwei Bodenvasen und ein CD-Regal zum An-die-Wand-Lehnen verstauben, in Sicherheit, weit weg von Bens Bobbycar. Wer den Krieg überlebt hat und immer noch in dieser Gegend wohnt, bekommt heute regelmäßig Post vom Makler, beigelegt ein Prospekt vom Luxus-Seniorenheim. »Wenn Sie jetzt verkaufen ...«
Unser Haus steht an der Längsseite eines Platzes, den ich langsam umrunde. In der Mitte ein Viereck Rasen, das schon unter Herbstlaub verschwindet, darauf Fußballtore und ein grün-gelb-rotes Plastikspielhaus. Wer einen Hund hat, der wird den Platz nur einmal betreten. Am Tag unseres Einzugs sah ich einen Schäferhund, der ein Bein hob auf dem Grün. Eine Sekunde später öffneten sich zeitgleich drei Türen. Es brüllte: »Runter!« Und: »Das ist eine Spielwiese!« Später kamen sie mit Brot und Salz vorbei.
Seit unserem Einzug klopft es häufiger an der Haustür, die Klingel hängt zu hoch: »Kommt der Ben raus zum Spielen?« Oder: »Kann ich mal bei euch aufs Klo?« Wir wissen, dass die Katze der Nachbarn »Clooney« heißt, nach George, und dass der Sohn zwei Häuser weiter sein letztes Handballmatch gewonnen hat. Die Kinder malen mit Kreide Hüpfkästchen auf die Straße, die Erwachsenen stehen oft zusammen und reden, im Sommer gerne draußen vor der Tür. »Bullerbü« nennen Harry und ich unsere neue
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