Lotta Wundertüte: Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl (German Edition)
der Tartanbahn mit den anderen Kindern um die Wette, ich trinke mit den Müttern Latte macchiato und lasse Lotta auf meinen Knien reiten. Sie lächelt.
Eine Mutter neben mir fragt: »Wann hat man das denn festgestellt?«
»Die Fehlbildung? Im neunten Monat, 33. Woche.«
»War es da zu spät?«
»Wofür?«
»Um was dagegen zu machen.«
»Das kann man nicht im Mutterleib operieren.«
»Nein, aber ...«
Das Wort abtreiben spricht sie schon nicht mehr aus.
Warum gibt es dich, Lotta? Ein behindertes Kind – das muss in Deutschland doch heute nicht mehr sein. Dafür gibt es Pränataldiagnostik, Präimplantationsdiagnostik, kurz PID, Abtreibungen, notfalls Spätabtreibungen. Wir forschen immer weiter, wir entwickeln Test nach Test. Das menschliche Genom ist längst entschlüsselt. Blutproben der schwangeren Mutter reichen aus, um die Erbanlagen ihres ungeborenen Kindes komplett aufzuschlüsseln. Noch sind die Tests teuer, noch sind sie selten, noch birgt das menschliche Genom viele Rätsel. Welche genetische Konstellation bedeutet welche Krankheit? Welche Fehlbildung lässt sich wo auf der DNA ablesen? Noch reden wir bei den meisten Behinderungen von Wahrscheinlichkeiten, nicht von Gewissheiten. Noch.
Beim Down-Syndrom sind wir schon weiter. Es ist eine der am weitesten verbreiteten Behinderungen und eine, die am leichtesten zu erkennen ist: In jeder Körperzelle findet sich das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal. Ein Pikser in den Arm der werdenden Mutter – mehr braucht es heutzutage nicht mehr, um Gewissheit zu haben. Der Arzt fragt: »Wollen Sie es behalten?« In der 12. Schwangerschaftswoche. Zu einem Zeitpunkt, an dem noch nicht alle Verwandten Bescheid wissen. An dem im Kinderzimmer noch keine Wiege bereitsteht. An dem das Kind noch eine Idee auf einem Ultraschallbild ist.
Wenn uns zu diesem Zeitpunkt ein Arzt gesagt hätte: »Ihre Tochter wird schwerbehindert sein« – hätten wir den Mut gehabt, sie zu behalten? Ich hoffe es, aber ich glaube es nicht. Lottas Geschichte wäre zu Ende gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hätte.
Ein behindertes Kind? Wie lebt es sich damit? Ist unser schönes Leben dann vorbei? Und was wird unser Kind für ein Leben haben – eingeschränkt, ausgegrenzt, behindert? Wollen wir das?
Wir entscheiden. Ja – oder nein. Behalten – oder abtreiben.
Laut § 218 des Strafgesetzbuchs ist eine Beendigung der Schwangerschaft straffrei gestellt, wenn ihre Fortführung jetzt oder in Zukunft das Leben der Mutter, ihre seelische oder körperliche Gesundheit schwerwiegend beeinträchtigen könnte. Das ist die sogenannte medizinische Indikation. Sie macht eine Abtreibung theoretisch bis zum Beginn der Wehen möglich. Grund ist juristisch gesehen nicht die Behinderung des Kindes, sondern das Leben und die Gesundheit der Mutter.
Niemals zuvor und niemals danach haben wir so viel Macht wie in diesem Moment. Wir entscheiden über Leben oder Tod. Niemals zuvor oder danach sind wir so hilflos. Wir müssen über Leben oder Tod entscheiden – nur wie? Mein Bauch gehört mir. Und was jetzt?
Nach welchen Kriterien entscheiden wir, welches Kind wir zulassen – und welches nicht? Entscheiden wir nach dem Gefühl? Nach der Liebe – für das Kind, nach der Angst – gegen das Kind? Entscheiden wir nach Fakten: Wie hoch ist das Risiko, wie sind die Wahrscheinlichkeiten? Welche Defekte lassen wir zu, welche nicht? Was ist nicht verzichtbar: laufen können, sehen, selbstständig atmen? Wie wollen wir das entscheiden?
Der medizinische Fortschritt schafft Fakten, doch die ethische Debatte bleibt dahinter zurück. Jeder muss für sich alleine entscheiden: Welche Kriterien muss mein Kind erfüllen, damit es geboren werden darf?
Niemand trifft diese Entscheidung leichtfertig. Keiner macht es sich leicht, den Daumen zu senken oder zu heben. Und doch werden schon heute schätzungsweise 90 Prozent der Down-Syndrom-Verdachtsfälle abgetrieben. Stillschweigend. Das Down-Syndrom ist die erste Behinderung, die aus der Gesellschaft verschwinden wird, da sind sich Humangenetiker sicher. Per Abtreibung. Einfach, weil es so leicht und früh festzustellen ist. Andere Behinderungen werden erst sehr viel später diagnostiziert, etwa durch den großen Organultraschall in der 22. Schwangerschaftswoche. Ab dieser Woche, also dem 6. Monat, wäre ein Fötus schon außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig. Ab diesem Zeitpunkt werden Schwangerschaftsabbrüche als Spätabtreibungen bezeichnet. Ihre Zahl
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