Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
nicht?« sagte die Tochter. »Und wozu sonst hättest du es mitgebracht? Aber eben weil du es gewiß bei einer und der anderen Gelegenheit anlegen wirst, laß mich, liebe Mama, auf meine bescheidene Frage zurückkommen, ob du dich nicht doch noch entschließen solltest, die ein wenig lichten Brust- und Ärmelschleifen durch etwas dunklere, sagen wir: solche in schönem Lila zu ersetzen. Es wäre so rasch getan …«
»Ach, höre doch auf, Lottchen!« versetzte die Hofrätin mit {30} einiger Ungeduld. »Du verstehst, mein Kind, auch gar keinen Spaß. Ich möchte wissen, warum du mir durchaus den kleinen sinnigen Scherz, die zarte Anspielung und Aufmerksamkeit verwehren willst, die ich mir ausgedacht habe. Laß dir sagen, daß ich tatsächlich wenig Menschen kenne, die des Sinns für Humor so sehr entbehren wie du.«
»Man sollte bei niemandem«, erwiderte die Tochter, »den man nicht kennt oder nicht mehr kennt, diesen Sinn ohne Weiteres voraussetzen.«
Charlotte, die Aeltere, wollte noch etwas zurückgeben, aber ihr Gespräch wurde durch die Rückkunft Klärchens unterbrochen, die heißes Wasser brachte und munter berichtete, die Jungfer der Frau Gräfin Larisch droben sei gar kein uneben Ding, mit der sie sich wohl stellen wolle, und außerdem habe der komische Herr Mager ihr fest versprochen, daß sie den Bibliothekar Vulpius, welcher den herrlichen »Rinaldo« verfaßt habe und der übrigens ein Schwager des Herrn von Goethe sei, unbedingt zu sehen bekommen solle: Wenn er zu Amte gehe, wolle er ihn ihr zeigen, und sogar sein Söhnchen, das nach dem Helden des berühmten Romans Rinaldo heiße, werde sie auf dem Schulwege beobachten können.
»Alles gut«, sagte die Hofrätin, »aber es ist hoch an der Zeit, daß ihr beide euch nun, du, Lottchen, in Klärchens Begleitung, nach der Esplanade zu Tante Amalie aufmacht, ihr unsere Ankunft zu melden. Sie ist sich ihrer wohl noch garnicht vermutend und erwartet sie erst für den Nachmittag oder Abend, weil sie annimmt, wir hätten uns in Gotha bei Liebenau's verweilt, da wir den Aufenthalt für diesmal doch übersprangen. Geh, Kind, laß Klärchen den Weg erfragen, küß mir im Voraus die liebe Tante und freunde dich unterdessen schon mit den Cousinen an. Ich alte Frau muß mich nun unbedingt erst einmal eine Stunde oder zweie aufs Bett legen und folge euch, sobald ich mich etwas erquickt.«
{31} Sie küßte die Tochter wie zur Versöhnung, bedankte mit einem Winken den Abschiedsknix des Zöfchens und sah sich allein. Auf dem Spiegeltisch gab es Tinte und Federn. Sie setzte sich, nahm ein Blättchen, tauchte ein und schrieb mit eilender Hand und leicht zitterndem Kopfe die vorbereiteten Worte:
»Verehrter Freund! Zu Besuch meiner Schwester mit meiner Tochter Charlotte auf einige Tage in Ihrer Stadt, ist es mein Wunsch, Ihnen mein Kind zuzuführen, wie es mich denn auch freuen würde, wieder in ein Antlitz zu blicken, das, während wir beide, ein jeder nach seinem Maße, das Leben bestanden, der Welt so bedeutend geworden ist. – Weimar, Hôtel zum Elefanten, den 22. September 16. Charlotte Kestner geb. Buff.«
Sie gab Streusand, ließ ablaufen, faltete das Blatt, indem sie geschickt die gefalzten Enden in einander schob, und schrieb die Adresse. Dann zog sie die Klingel.
{32} Zweites Kapitel
Charlotte fand lange die Ruhe nicht, die sie wohl nicht einmal aufrichtig suchte. Zwar verhüllte sie, nachdem sie die oberen Kleider abgelegt und sich, mit einem Plaid bedeckt, auf einem der Betten unter dem kleinen Mullhimmel ausgestreckt hatte, ihre Augen gegen die Helligkeit der Fenster, die ohne dunklere Vorhänge waren, mit einem Schnupftuch und hielt darunter die Lider geschlossen. Dabei aber trachtete sie nach ihren Gedanken, die ihr das Herz klopfen machten, mehr, als nach dem vernünftiger Weise wünschenswerten Schlummer, und dies umso entschiedener, als sie diese Unweisheit als jugendlich, als Beweis und Merkmal innerster Unverwüstlichkeit, Unveränderlichkeit durch die Jahre empfand und sich mit heimlichem Lächeln darin gefiel. Was jemand ihr einst geschrieben, auf einem Abschiedszettel: »Und ich, liebe Lotte, bin glücklich in Ihren Augen zu lesen, Sie glauben, ich werde mich nie verändern –«, ist der Glaube unserer Jugend, von dem wir im Grunde niemals lassen, und daß er Stich gehalten habe, daß wir immer dieselben geblieben seien, daß Alt werden ein Körperlich-Aeußerliches sei und nichts vermöge über die Beständigkeit unseres Innersten,
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