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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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dieses närrischen, durch die Jahrzehnte hindurchgeführten Ich, ist eine Beobachtung, die anzustellen unseren höheren Tagen nicht mißfällt, – sie ist das heiter-verschämte Geheimnis unserer Alterswürde. Man war eine sogenannte alte Frau, nannte sich spöttisch auch selber so und reiste mit einer neunundzwanzigjährigen Tochter, die noch dazu das neunte Kind war, das man dem Gatten geboren. Aber man lag hier und hatte Herzklopfen genau wie als Schulmädel vor einem tollen Streich. Charlotte stellte sich Betrachter vor, die das reizend gefunden hätten.
    Wer lieber nicht vorzustellen war als Beobachter dieser Her {33} zensbewegung, war Lottchen, die Jüngere. Trotz dem Versöhnungskuß hörte die Mutter nicht auf, ihr zu zürnen der »humorlosen« Kritik wegen, die sie an dem Kleide, den Schleifen geübt, und die im Grunde dieser ganzen, so würdig-natürlich zu begründenden und dennoch von ihr als »extravagant« beurteilten Reise galt. Es ist unangenehm, jemanden auf Reisen zu führen, der zu scharfblickend ist, um zu glauben, daß man seinetwegen reist, sondern sich als vorgeschoben erachtet. Denn ein unangenehmer, ein kränkender Scharfblick ist das, ein Scheelblick vielmehr, der von den verschlungenen Motiven einer Handlung nur die zart verschwiegenen sieht und nur diese wahr haben will, die präsentablen und sagbaren aber, so ehrenwert wie sie seien, als Vorwände verspottet. Charlotte empfand mit Groll das Beleidigende solcher, ja vielleicht aller Seelenkunde und hatte nichts andres im Sinn gehabt, als sie der Tochter Mangel an Leutseligkeit vorgehalten.
    Haben denn sie, die Scharfblickenden, dachte sie, nichts zu fürchten? Wie, wenn man den Spieß umkehrte und die Motive ihres Spürsinns zu Tage zöge, die sich vielleicht nicht ganz in Wahrheitsliebe erschöpfen? Lottchens ablehnende Kälte, – nun, auch sie mochte ein boshafter Scharfblick durchschauen, auch sie bot zu Einblicken Anlaß und nicht zu sonderlich gewinnenden. Erlebnisse, wie sie ihr, der Mutter, zuteil geworden, waren diesem hochachtenswerten Kinde nun einmal nicht beschieden gewesen, noch würden sie ihm seiner Natur nach je beschieden sein: ein Erlebnis wie das berühmte zu dritt, welches so fröhlich, so friedlich begonnen hatte, dann aber dank der Tollheit des einen Teiles ins Quälend-Verwirrende ausgeartet und zu einer großen, redlich überwundenen Versuchung für ein wohlschaffen Herz geworden war, – um eines Tages, o stolzes Entsetzen, aller Welt kundzuwerden, ins Überwirkliche aufzusteigen, ein höheres Leben zu gewinnen und so die Menschen aufzuwühlen und zu verwirren wie einst ein Mädchen {34} herz, ja, eine Welt in ein oft gefährlich gescholtenes Entzücken zu versetzen.
    Kinder sind hart und unduldsam, dachte Charlotte, gegen das Eigenleben der Mutter: aus einer egoistisch verbietenden Pietät, die fähig ist, aus Liebe Lieblosigkeit zu machen, und die nicht löblicher wird, wenn einfach weiblicher Neid sich darein mischte, – Neid auf ein mütterliches Herzensabenteuer, der sich als spöttischer Widerwille gegen die weitläufigen Ruhmesfolgen des Abenteuers verkleidete. Nein, das gestrenge Lottchen hatte so furchtbar Schönes und schuldhaft Todsüßes nie erfahren wie ihre Mutter an dem Abend, als der Mann in Geschäften verritten gewesen und Jener gekommen war, obgleich er vor Weihnachtsabend nicht mehr hatte kommen sollen; als sie vergeblich zu Freundinnen geschickt und allein mit ihm hatte bleiben müssen, der ihr aus dem Ossian vorgelesen hatte und beim Schmerze der Helden überwältigt worden war von seinem eigenen allerdüstersten Jammer; als der liebe Verzweifelte zu ihren Füßen hingesunken war und ihre Hände an seine Augen, seine arme Stirn gedrückt hatte, da denn sie sich von innigstem Mitleid hatte bewegen lassen, auch seine Hände zu drücken, unversehens ihre glühenden Wangen sich berührt hatten und die Welt ihnen hatte vergehen wollen unter den wütenden Küssen, mit denen sein Mund auf einmal ihre stammelnd widerstrebenden Lippen verbrannt hatte …
    Da fiel ihr ein, daß sie es auch nicht erfahren hatte. Es war die große Wirklichkeit, und unterm Tüchlein brachte sie sie mit der kleinen durcheinander, in der es so stürmisch nicht zugegangen war. Der tolle Junge hatte ihr eben nur einen Kuß geraubt – oder, wenn dieser Ausdruck zu ihrer beider Stimmung von damals nicht passen wollte: er hatte sie von Herzen geküßt, halb Wirbelwind, halb Melancholicus, beim Himbeersammeln, in der

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