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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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glücklich und gehe nicht aus Euren Herzen … Adieu, tausendmal adieu!« – »Er ist fort«, sagten sie abwechselnd, und alle Kinder im Haus gingen wie suchend umher und wiederholten betrübt: »Er ist fort!« Die Tränen waren Lotten gekommen beim Lesen der Zettel, und sie hatte ruhig weinen dürfen und nichts zu verbergen brauchen vor ihrem Guten; denn auch ihm waren die Augen feucht gewesen, und nur von dem Freunde hatte er sprechen mögen den ganzen Tag: was für ein merkwürdiger Mensch er sei, barock wohl zuweilen von Wesen, in manchen Stücken nicht angenehm, aber so voller Genie und eigentümlich ergreifender Besonderheit, welche zum Mitleid bewege, zur Sorge und herzlich geneigten Verwunderung.
    So der Gute. Und wie dankbar hatte sie sich zu ihm gezogen gefühlt, fester als je an seine Seite, weil er so sprach und es völlig natürlich fand, daß sie weinte um den, der fort war! Wie sie da lag mit geschützten Augen, erneuerte sich in dem unruhigen Herzen der Reisenden diese Dankbarkeit in voller Wärme; ihr Körper bewegte sich als schmiege sie sich an eine verläßliche Brust, und ihre Lippen wiederholten die Worte, die sie damals gesprochen: Es sei ihr lieb, murmelte sie, daß er fort sei, der von außen gekommene Dritte, da sie ihm, was er von ihr gewünscht, doch nicht hätte geben können. Das hörte er gern, ihr Albert, der den Vorrang und höheren natürlichen Glanz des Entschwundenen so stark empfunden hatte wie sie, stark bis zum Irrewerden an ihrer beider vernünftig-zielklarem Glücke, {38} und ihr eines Tages in einem Briefchen das gegebene Wort hatte zurückgeben wollen, daß sie frei wähle zwischen dem Glänzenderen und ihm. Und sie hatte gewählt – und ob sie gewählt hatte! – nämlich wieder nur ihn, den schlicht Ebenbürtigen, den ihr Bestimmten und Zukommenden, ihren Hans Christian: nicht nur, weil Liebe und Treue stärker gewesen waren, als die Versuchung, sondern auch kraft eines tiefgefühlten Schreckens vor dem Geheimnis im Wesen des Anderen, – vor etwas Unwirklichem und Lebensunzuverlässigem in seiner Natur, das sie nicht zu nennen gewußt und gewagt hätte und für das sie erst später ein klagend-selbstanklägerisches Wort gefunden hatte: »Der Unmensch ohne Zweck und Ruh'« … Wie sonderbar nur, daß ein Unmensch so lieb und bieder, ein so kreuzbraver Junge sein konnte, und daß die Kinder nach ihm suchten und sich betrübten: »Er ist fort!«
    Eine Menge Sommerbilder jener Tage zogen an ihrem Geist vorüber unter dem Tüchlein, sprangen auf in sprechender, hell besonnter Lebendigkeit und verloschen wieder, – Szenen zu dritt, wenn Kestner einmal vom Amte frei gewesen war und mit ihnen hatte sein können: Spaziergänge am Bergesrücken, wo sie auf den durch Wiesen sich schlängelnden Fluß, das Tal mit seinen Hügeln, auf heitere Dörfer, Schloß und Warte, Kloster- und Burgruinen geschaut hatten und Jener, in offenbarem Entzücken mit traulichen Menschen die holde Fülle der Welt zu genießen, von hohen Dingen geredet und in einem damit tausend komödiantische Possen getrieben hatte, sodaß die Brautleute vor Lachen kaum weiter hatten gehen können; Stunden des Buches in der Wohnstube oder im Grase, wenn er ihnen aus seinem geliebten Homer oder dem Fingal-Liede vorgelesen und plötzlich, in einer Art von Begeisterungszorn, die Augen voll Thränen, das Buch hingeworfen und mit der Faust aufgeschlagen hatte, dann aber, da er ihre Betretenheit sah, in ein fröhlich gesundes Lachen ausgebrochen war … Szenen zu {39} zweit, zwischen ihm und ihr, wenn er ihr in der Wirtschaft, im Krautfelde geholfen, mit ihr Bohnen geschnitten oder im Deutschordensgarten mit ihr Obst abgenommen hatte, – ganz guter Kerl und lieber Kamerad, mit einem Blick oder zügelnden Wort rasch wieder ins Rechte zu bringen, wenn er sich ins Schmerzliche hatte gehen lassen wollen. Sie sah und hörte das alles, sich, ihn, Gebärden und Mienenspiel, Zurufe, Anweisungen, Erzählungen, Scherze, »Lotte!« und »Bestes Lottchen!« und »Laß er die Fisimatenten! Steig' er lieber hinauf und werf' er mir in den Korb herunter!« Das Merkwürdige aber war, daß all diese Bilder und Erinnerungen ihre außerordentliche Deutlichkeit und Leuchtkraft, die genaue Fülle ihres Détails sozusagen nicht aus erster Hand hatten; daß das Gedächtnis ursprünglich keineswegs so sehr darauf ausgewesen war, sie so ins Einzelne zu bewahren, sondern sie erst später aus seiner Tiefe Teilchen für Teilchen, Wort für

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