Love Alice
eine Schlange. Draußen tobt der Wind, die unsichtbaren Vögel flattern mit ihren Flügeln.
»Ich bin nur die Treppe hinaufgegangen, damit nichts auffällt«, sagt Cherry und sieht mich unverwandt an.
Ich rutsche näher zu ihr, mein Gesicht ganz nah an ihres.
»Weißt du, wer es war?«, frage ich, ohne meinen Mund zu öffnen.
Cherry schmeißt den Kopf zurück, überstreckt ihren Körper. Ihr entfährt ein dumpfes, langes Stöhnen, als wenn die ganze Luft aus ihr entweichen würde. Tränen zeichnen nasse Stellen auf ihren Wangen. Ihr weißer Hals blitzt hell auf, ich erkenne dunkle Flecken darauf. Es sind Fingerabdrücke. Eine Kette leuchtet kurz auf ihrem Schlüsselbein auf. Ich stürze zu ihr, nehme sie in den Arm, küsse ihr die Tränen weg. Ich streichle ihren Kopf.
»Liebe, Süße, ich bin hier, ich bin hier, ich bin gar nicht weg«, rufe ich.
Cherry schmiegt sich an mich, ertastet aber gleichzeitig mit langen Fingern meinen Hals, legt ihren Kopf an meine Brust und öffnet ihren bläulichen Mund, als ob sie mich beißen wollte.
» Ich bin weg«, sagt sie mit Nachdruck. Ihre dunkle Stimme ist leise, aber fest.
Ihre Augen blitzen und sie lächelt gezwungen. Ich stoße sie grob weg. Sie macht mir Angst.
»Ich muss das, sie zwingen uns, Neue mitzubringen! Ich will es nicht, aber ich muss«, sagt Cherry.
Sie beginnt, bitterlich zu weinen, und entfernt sich, ohne sich zu bewegen, als würde sie von einem gigantischen unsichtbaren Mund eingesogen. Auf einmal ist ihre Gestalt hell, fast weiß.
Sie fliegt rückwärts aus dem offenen Fenster in die Ferne, bis sie in der Dunkelheit nicht mehr auszumachen ist. Dann schließe ich die Augen und öffne sie wieder. Mein Zimmer ist leer, das Fenster klappert. Die Laterne gibt schwaches, rostrotes Licht. Die Tür geht auf. Mama steht an der Türschwelle, ganz nackt, gekrümmt, in sich zusammengefallen, alt und grau, die Hände vor dem Gesicht. Sie wippt vor und zurück wie eine Verrückte. Sie sieht fürchterlich aus.
In meinem Zimmer ist es gleißend hell, das Fenster ist geschlossen. Draußen ist der schönste Tag, den man sich ausdenken kann. Cherry ist nicht im Zimmer. Auch Mama scheint schon auf zu sein, ich rieche Kaffee. Der Albtraum hat mich erschöpft, ich habe ein ungutes Gefühl. Als ich versuche, etwas zu sagen, versagt mir die Stimme. Ich reiße mich zusammen und rufe nach Mama. Es klingt verzweifelt.
Mama ist schon fertig angezogen. Sie sieht elegant aus, ihr Gesicht ist zurechtgemacht und heiter.
»Na, zufrieden? Dein Früchtchen ist schon weg. Ihr Vater hat sie vor lauter Sehnsucht ganz früh angerufen, mich geweckt und sie zum Frühstück abgeholt«, sagt Mama.
Ich fühle mich gleich besser. Ich öffne mein Fenster, lasse die frische Luft reinströmen, atme tief ein. Es ist wärmer, als es aussieht.
»Sie heißt Cherry, Mama«, sage ich. Meine Stimme zittert.
»Ist ja gut, ich weiß … Dodo?«
Mama merkt sofort, wenn etwas nicht stimmt. Sie tritt näher, fasst mich an der Schulter. Obschon ich ihre Hand abschüttele, bin ich dankbar, dass sie da ist. Der Albtraum sitzt wie ein Kloß in meiner Kehle und erstickt mich beinahe.
»Ich habe schlecht geträumt. Ganz schlimm«, sage ich.
Ohne dass ich es kontrollieren kann, zittern meine Lippen. Mama setzt sich zu mir. Ich schniefe und schmiege mich an sie. Der Samt ihres Kleides riecht lecker nach ihrem Parfüm, ein schwerer und süßer Duft.
»Von Samstag auf Sonntag …«, sagt Mama und sieht mich ernst an.
Sie umarmt mich und wiegt mich in den Armen, wie ein Baby.
»… von Samstag auf Sonntag haben die Träume keine Bedeutung«, sagt sie mit fester Überzeugung. Ich werde ruhig, mein Bauch entspannt sich.
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sage ich.
Das Wortbild
Der Montag ist seltsam. Das Wetter ist phantastisch, sonnig und freundlich. Aber Cherry steht auf dem Schulhof nur bei Tuula und Nesrin und tut so, als würden wir uns kaum kennen. Wir haben seit jener Nacht nicht mehr miteinander gesprochen. Die ersten Stunden vergehen langsam, dazwischen verschwinde ich auf der Toilette und frage mich, was denn eigentlich passiert ist und was ich falsch gemacht habe. In der großen Pause rede ich eine Weile mit Kerkko, der immer nett ist und nie auf die Idee kommen würde, zu fragen, warum ich sonst nie mit ihm spreche.
Kerkko kann einen neuen Trick mit seinem BMX und er wünscht sich ein neues Diabolo. Er fragt mich, ob ich Lust hätte, mit ihm zu üben. Ich kriege es kaum mit, bin aber dankbar,
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