Love Alice
mir in die Augen.
Mama kriegt wie immer die Kurve. Ihr Gesicht vereist, sie trinkt den Rest aus ihrer Tasse, um die Pause zu halten.
»Wunderbar. Dann triff dich mit deiner Freundin gefälligst hier. Ich habe keine Lust, euch ständig hinterherzutelefonieren und meine Nerven zu ruinieren. Ich möchte, dass du ab jetzt abends zu Hause bist«, sagt sie nüchtern. »Ist das klar?«
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken.
Der Albtraum
Nach der Schule begleite ich Cherry zum Karatetraining. Ich sehe dabei zu und mache ein paar dusselige Zeichnungen. Aber meine Unzulänglichkeit frustriert mich so sehr, dass ich meinen Block schnell wieder beiseitelege. Heute werden Kicks geübt. Anhand eines anatomischen Modells erklärt der Karatelehrer die Muskeln, die beteiligt sind. Er drischt mit seinem Bein auf ein blaues Kissen, das ein Schüler ihm entgegenhält. Das Geräusch dabei ist wie von einem platzenden Luftballon, der Lehrer hat enorme Kraft. Dann macht er Musik an. Nackte, harte Beats schallen durch die Halle.
Cherry ist konzentriert und ernst. Ihre Kicks sind weniger kräftig, aber sie verliert kein einziges Mal das Gleichgewicht. Auf ihrem Handgelenk entdecke ich meine hellblaue Schleife, die sie mir aus dem Haar gezogen hat. Sie hat sie sich umgebunden, wie einen Armreif.
»Zehen anziehen beim geraden Kick!«, ruft der Karatelehrer.
Ich sehe auf meine Füße, die in Socken stecken. Vorne auf die Zehen sind lustige Teufelsfratzen mit Feueraugen gedruckt. Wenn ich mit den Zehen wackle, verziehen die Fratzen die Gesichter.
Als Cherry duscht, spähe ich in den Duschraum. Er ist lang und schmal, aber Cherry steht gleich unter der ersten Dusche. Ich kenne das schon, Cherry liebt es, zu duschen, und braucht ewig. Sie macht den Mund auf, die Augen zu und lässt sich das Wasser in und aus dem Mund laufen, ohne es zu trinken. Unter ihren Füßen steigen Dampfschwaden auf. Als sie mich bemerkt, richtet sie den Duschkopf mit einer Kickbewegung auf mich. Der Wasserstrahl trifft mich direkt auf die Brust. Cherry lacht, als ich kreischend davonstürme.
Danach gehen wir zu mir. Ich erzähle Cherry, dass es eine Art Strafe sein soll. Aber sie freut sich sichtlich, in unser Frauenchaos einzutauchen. Sie probiert sich durch Mamas Schuhreihe im Gang und testet, wie ihre Hände mit Mamas Handschuhen aussehen. Dann zeige ich ihr, wo ich kürzlich Nägel in eine Wand geschlagen habe, um meine Ketten aufzuhängen. Braun-goldene Tigeraugen, die das Flirten leichter machen, Bernstein zur Stärkung der Gesundheit, Türkis macht glücklich und Hämatit schützt vor dem bösen Blick.
»Hämatit heißt auch Blutstein, weil er rote Spuren hinterlässt, wenn man damit an Glas kratzt«, erkläre ich Cherry.
Sie möchte es sofort ausprobieren, aber meine Blutsteinkette ist aus rundpolierten Kugeln und kratzt nicht. Am schönsten findet Cherry die Obsidiankette, weil die Steine zweifarbig sind und aus Lava entstehen. Ich mag Rosenquarz am liebsten.
Wir gehen in die Küche, um das Abendessen zu kochen. Im Radio läuft Madonna, ein alter Song. Ich drehe lauter, und Cherry wackelt mit ihrem Hintern, dreht die Beine auseinander und bewegt ihren Kopf hin und her, wie eine Backgroundtänzerin. Ich inspiziere unsere Spaghettivorräte und salze das kochende Wasser, während Cherry die Packung aufreißt, den gesamten Inhalt in den Topf quetscht und zusieht, wie die Teighalme weich werden und tiefer rutschen.
»Meinst du, deine Mutter freut sich über das Abendessen?«, fragt Cherry.
»Ich weiß nicht«, sage ich.
»Zumindest sind wir hier«, sagt Cherry.
»Draußen regnet es eh«, antworte ich.
»Sind deine Kleider deswegen im Trockner?«, ruft Mama.
Wir haben sie gar nicht gehört. Cherry dreht die Musik leiser und rührt in den Nudeln.
»Wir haben Abendessen gekocht!«, ruft sie.
Mama steht in der Tür, nickt und lächelt distanziert. »Dann sollten wir bald essen, Kristin, du musst ja noch nach Hause.«
Ich hole die Teller und stelle sie auf den runden Tisch. Ich glaube, das könnte das erste Mal sein, das wir wie normale Menschen in der Küche essen.
»Cherry schläft heute hier, Mama«, sage ich.
Ich hole das Besteck und warte, dass Mama widerspricht, aber sie sagt nichts. Sie betritt die Küche, klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter und setzt sich an den Tisch.
Wir legen die Sitzkissen von der Couch neben mein Bett und ziehen ein Spannbettlaken drüber, damit sie nicht auseinanderrutschen. Mama holt zwei Plaids, da
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