Love Alice
bittet Mama darum, den Brief lesen zu dürfen, bevor ich ihn absende. Danach weint sie und sagt, dass sie stolz auf mich sei. Ich weine nicht. Ich weine gar nicht mehr.
Ich habe kein Patent für das richtige Gefühl oder Trauer. Meine beste Freundin ist ermordet worden. Sie lief abends alleine nach Hause, die schwarze Gestalt hinter ihr bemerkte sie nicht. Meine Freundin nahm eine Abkürzung, wie schon so oft. Ich war damals bei Mama auf der Bühne. Es war die beste Aufführung der Spielzeit. Wir waren nur für eine Spielzeit da, und es war nicht abzusehen, dass ich ausgerechnet hier meine beste Freundin treffe. Sie kämpfte, so heftig sie konnte, aber sie kam nicht mehr nach Hause. Ich habe keine Antworten gefunden, seit ich darüber nachdenke. Aber ich habe mich verändert.
Wenn ich aus der Tür gehe, kralle ich meine Schlüssel in der Hand fest, den längsten, den »französischen«, wie ein Messer nach vorne gestreckt. Ich gehe immer am innersten Rand des Bürgersteiges, weit von den Autos, nehme mir ein Taxi, wenn ich den Bus verpasse. Und wenn ich im Fahrstuhl fahre und ein Mann einsteigt, steige ich sofort aus, egal ob beim Zahnarzt oder im Einkaufszentrum. Ich tue es nicht, weil ich Angst habe. Ich halte mich bereit.
Als ich einmal das Gefühl habe, auf der Straße gehe ein Mann zu lange hinter mir her, drehe ich mich um und brülle ihn an. Manchmal fallen mir blasse Mädchen mit langen Haaren auf. Es gibt immer wieder diese Sekunden, in denen ich glaube, Cherry zu sehen. Das ist traurig. Die Sehnsucht nach Cherry hört nie auf.
Am Abschiedsgrat
Feierlich schwarz gekleidet, mit einer Tüte in der Hand, laufe ich durch den Wald. Es riecht nach Holz und Blumen, das Gras leuchtet in der Sonne. Ich überlege, wie viele Seelen in diesem Wald sind, Vögel, Tiere, Insekten, Larven, Spaziergänger. Es sind Tausende lebendiger, pulsierender und atmender Körper, in denen jeweils eine Seele lebt. Ich sehe in den Himmel. Über dem Blau rasen Wolken, verformen sich vor meinen Augen, als wollten sie Geschichten erzählen.
Ich gehe aus dem Wald auf die Lichtung zu dem Froschlaichteich. Der Wind spielt mit meinen Haaren und kitzelt mich im Gesicht. Als ich die Strähnen zurückstreife, spüre ich die kleine Narbe auf meiner Stirn. Mein Haar ist rot gefärbt, ich benutze die gleiche Farbe wie Cherry. Ich setze mich ans Ufer.
»Ich kann dich noch sehn: ein Echo,
ertastbar mit Fühl-
wörtern, am Abschieds-
grat«,
spreche ich sehr deutlich.
Das Wasser leuchtet in der Sonne. Ich stelle die Tüte neben mir ab und hole das Päckchen heraus. Es ist das Geschenk, das Cherry mir im Altpapiercontainer gegeben hat. Es sieht nicht mehr neu aus, aber es ist noch verschlossen. Ich wusste nie, wann ich es aufmachen sollte. Ich hatte Angst davor. Es ist das Einzige, was ich noch von ihr habe, denke ich, der Zeitpunkt muss stimmen, und ich darf nicht traurig sein. Heute weiß ich, dass ich es hier aufmachen muss, denn wir fahren nach Wien und das ist einfach viel zu weit weg.
»Dein Gesicht scheut leise,
wenn es auf einmal
lampenhaft hell wird
in mir …«
Ich schließe kurz die Augen. Ich halte Cherrys Päckchen in den Händen. Dann reiße ich das Geschenkpapier auf, langsam, aber nicht vorsichtig. Der Wind trägt die Papierstreifen davon, verteilt sie im Gras.
Das ist also Cherrys Geschenk, ihr Geschenk an mich aus dem Jenseits: Penispasta aus dem Scherzartikelladen. Sie werden groß, wenn man sie kocht. Ohne dass ich es steuern kann, ziehen sich meine Mundwinkel nach oben, ich muss breit lächeln.
»… an der Stelle,
wo man am schmerzlichsten Nie sagt.«
Ich sehe zur Seite. Dort, in der Sonne, sitzt Cherry, mit ihren blonden Haaren, so wie ich sie zum ersten Mal sah. Wir sehen uns an. Cherry lächelt zaghaft. An ihrem Hals blitzt mein Goldherz.
Ich habe das Gedicht von Paul Celan auswendig gelernt, jetzt verstehe ich es. Heute habe ich es ihr vorgetragen, weil sie Lieder und Gedichte so liebt. Ich weiß, dass sie es sofort begreift. Sie hat immer alles schneller als ich begriffen.
Ich nehme Cherry an der Hand und lege mich mit ihr zurück ins Gras, wie damals im Schnee, bei den Bahngleisen. Die Wolken rasen über uns, es ist, als würde ich fliegen. Die Sonne scheint auf meine ausgestreckte Hand, sie wird warm. Neben mir ist niemand.
Danksagung
Ich danke meiner über alles geliebten Mutter, ohne die kein Buch von mir möglich wäre, Waldemar, der mich mit seiner selbstlosen väterlichen Unterstützung stark gemacht
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