Lucas
mich lange fest an, dann tätschelte er meine Hand. »Warte hier – ich hab was für dich. Ich denke, du bist jetzt so weit.« Er stand auf und verließ das Zimmer. Ich hörte, wie er ins Schlafzimmer ging, die Schranktür öffnete und dann hörte ich seine Schritte über den Flur zurückkehren. Als er wieder eintrat, hatte er Lucas’ Leinentasche in der Hand.
»Die Polizei braucht sie nicht mehr«, sagte er und setzte sich. »Das Notizbuch haben sie als Beweisstück dabehalten, aber alles andere ist so, wie es war.« Er reichte sie mir. »Lenny meinte, vielleicht hättest du sie gern.«
Ich nahm die abgewetzte Tasche in meine Hände und spürte, wie mir die Tränen kamen. Sie roch nach Lucas. Nach Sand, Salz, Schweiß, Krebsen. Ich krampfte meine Hände in den rauen grünen Stoff und hielt mir die Tasche an die Brust. Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte nicht einmal weinen. Dad beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange. »Fang etwas Schönes damit an«, flüsterte er. »Mach sie zu einem Teil von dir.«
Dann stand er auf, sagte Gute Nacht und ging leise hinaus.
Es war nicht viel in der Tasche. Zwei grüne T-Shirts , eine grüne Hose, Unterhosen, seine Wasserflasche, ein Stück Schnur, ein paar Angelhaken, ein Taschenmesser, eine Handvoll Steine und Muscheln und eine kleine Holzschnitzerei, die in ein Tuch gewickelt war. Ich nehme an, der Rest seiner Sachen befand sich in den Taschen seiner Kleidung, als er starb, vielleicht war er aber auch bei der Verwüstung seines Verstecks im Wald zerstört oder geklaut worden.
Ich bewahre seine Anziehsachen in meinem Kleiderschrank auf. Die Leinentasche hängt an meiner Tür. Auch der Rest ist immer in meiner Nähe. Ich sehe gerade alles vor mir. Während ich hier sitze und aus meinem Fenster schaue, sehe ich das Stück Schnur, das von einem Nagel in der Wand hängt, ich sehe die Angelhaken, die aufgereiht auf meinem Regal liegen, ich sehe das Taschenmesser, das in dem Krug für meine Stifte steckt, und die Steine und Muscheln, die schön in einem Schmuckkasten aus Glas liegen. Und ich sehe die kleine Holzschnitzerei in meiner Hand. Normalerweise habe ich sie zusammen mit der anderen, dem Miniatur-Deefer, auf dem Nachtschränkchen stehen, aber ich erwische mich oft dabei, dass ich sie in die Hand nehme und festhalte, sie gar nicht unbedingt anschaue, sondern einfach nur wohlig in meiner Handfläche spüre. Sie hilft mir beim Denken. Sie beruhigt mich. Es ist ein geschnitztes Gesicht. Genau wie die Figur von Deefer ist es grob geschnitzt, aber erstaunlich schön. Nicht größer als ein Finger, aus Treibholz. Es fühlt sich ganz glatt und warm an, beinahe lebendig. Ich habe viele Stunden damit verbracht, es genau zu studieren, das Gesicht anzustarren, die kleinen Augen, die perfekte Nase, den betörenden Mund, und ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll. Es scheint sich mit jedem Mal, wenn ich es betrachte, zuverändern. Manchmal bin ich sicher, es soll mich darstellen. Ich
bin
es. Und wenn ich es ansehe, sehe ich, was ich fühle. Wenn ich glücklich bin, zeigt es sich glücklich. Wenn ich traurig bin, zeigt es sich traurig. Wenn ich einsam bin, zeigt es sich einsam. Aber zu anderen Zeiten wirkt es überhaupt nicht wie ich. Dann sieht es wie Dad aus. Und es spiegelt auch
seine
Gefühle. Es ist unheimlich.
Manchmal, meistens in den frühen Morgenstunden, nimmt die Schnitzerei den Ausdruck von Lucas an. Wenn der Wind in die Bäume fährt, in der Ferne ein Gewitter tobt oder ich aus sonst einem Grund nicht mehr schlafen kann, wache ich auf, schaue zur Uhr und sehe in dem blassroten Licht der Digitalanzeige Lucas’ Gesicht, das mich vom Nachtschränkchen ansieht. Anders als meins oder Dads ändert sich Lucas’ Gesicht nie. Es bleibt immer gleich: ruhig, friedlich und wunderschön traurig.
Jetzt gerade, als ich das geschnitzte Gesicht ins Licht halte, sehe ich uns alle drei vereint. Drei Gesichter in einem. Das hab ich vorher noch nie gesehen.
Es sieht schön aus.
Jetzt ist es Spätnachmittag, ungefähr halb sechs. Hochsommer. Heiß, aber nicht zu heiß. Warm genug für Shorts und T-Shirt . Der Himmel glänzt in dem wunderbaren silbernen Licht, das bis zum frühen Abend anhält, und das Haus ist still. Dominic ist wieder zurück von der Uni und nimmt gerade ein Bad, nachdem er am Strand gejoggt ist. Ich kann den Wassertank auf dem Dachboden tropfen hören – teck, tock, tock . . . teck, tock, tock . . . teck, tock, tock – wie eine
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