Lucian
fuchtelte mit ihrem Messer durch die Luft. »In einer Stunde ist die Kiste für den Flohmarkt gefüllt!«
Wir aßen den gesamten Apfelstrudel mit Vanillesauce auf, wobei ich die eine Hälfte übernahm, während Janne und Spatz sich die andere teilten. Dann krönten wir Janne zur Strudelkönigin der Ladys Night – und scheiterten schließlich jämmerlich, was das Ausmisten betraf.
Während sich in der Flohmarktkiste ein bescheidenes Häufchen aus Jannes Fachbüchern, Brettspielen und CDs ansammelte, wurden die Berge mit den Dingen, die wir behalten wollten, höher und höher.
Spatz stapelte selig ihre alten Videoaufzeichnungen von Godard–und Hitchcockfilmen (»Wir müssen unbedingt noch einen Videorekorder kaufen, bevor es zu spät ist«), ich hatte mir die alten Bilderbücher wie einen Hocker unter das Gesäß geschoben und Janne zog gerade etwas Kleines, Weißes aus der letzten Kiste, als ich plötzlich etwas spürte. Es fühlte sich an wie ein hauchfeiner Riss tief in meinem Inneren. Er war kaum wahrnehmbar, als ob mir jemand mit der Pinzette ein Härchen ausgerupft hätte, das nach innen gewachsen war. Ein kurzer Ruck, dann war es vorbei. Was blieb, war ein sonderbares Gefühl von Leere, das ich nicht deuten konnte. Ich schob es auf die späte Uhrzeit – mittlerweile war es nach Mitternacht – und verdrängte es, als Janne mir einen kleinen Teddybären in den Schoß legte.
»Das war dein allererstes Geburtstagsgeschenk«, sagte sie. Er war aus Schafwolle, ziemlich schmuddelig und kaum größer als Jannes Hand. Dunkelbraune Filzkreise bildeten die Augen, die winzige Nase war ein schwarzes Garnbällchen und auf seinen wollweißen Wangen prangte ein Schokoladenfleck.
»Daran wirst du dich bestimmt nicht mehr erinnern«, fuhr Janne fort. »Moma hat ihn dir geschenkt, als wir dich nach der Geburt nach Hause brachten. Er sollte über deine Träume wachen, aber du hast ihn auch am Tag nicht aus der Hand gelassen. Überallhin hast du ihn mitgeschleppt, und als wir ihn einmal beim Griechen liegen ließen, hast du so lange gebrüllt, bis ich Herrn Papatrechas aus dem Schlaf geklingelt habe und er dein Bärchen mit dem Taxi zurückschickte. Du hattest sogar einen Namen für ihn. Wie war er noch . . . Li oder La . . .?« Janne legte die Stirn in Falten.
»Lu«, murmelte ich. Ich hatte keine Ahnung, wieso mir der Nameüber die Lippen kam. Ich erinnerte mich gar nicht mehr an den kleinen Bären.
Aus dem Vogelbauer war ein schnarrendes Geräusch zu hören. Es kam von John Boy. Eifrig wetzte er seinen Schnabel an der kleinen Sepiaschale. Ich starrte den grünen Wellensittich an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, und als er mit den Flügeln schlug, zuckte ich aus irgendeinem Grund zusammen.
»Hey.« Janne musterte mich besorgt. »Du bist ja ganz blass. Ist alles in Ordnung, Wölfchen?«
Ich nickte, aber es stimmte nicht. Mit einem Mal fühlte ich mich total erschöpft.
»Ich glaub, ich muss ins Bett«, murmelte ich. »Ich hab morgen in der ersten Stunde Englisch.«
Spatz warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Dann richte deinem Mister Tyger aus, wenn er dich das nächste Mal auf dem Kieker hat, erscheine ich persönlich in seiner Sprechstunde und töröte ihm mit deiner alten Trompete den Marsch.«
»Gute Idee«, knurrte Janne. »Hätten wir eigentlich schon längst mal tun sollen.«
Mein Englischlehrer gehörte nicht zu unseren Lieblingsthemen. Janne und Spatz verabscheuten es, wenn mir jemand das Leben schwer machte, insbesondere wenn es gar keinen Grund dafür gab.
Ich rappelte mich vom Boden auf und warf Janne einen zerknirschten Blick zu. »Kann ich . . . vielleicht doch meinen Kram bis morgen hier liegen lassen?«
Es war eine rhetorische Frage. Mir war klar, dass morgen keine Spuren mehr von unserer Aktion zu finden sein würden. Egal, wie spät der Abend wurde, egal, wie früh der Morgen anbrach, Janne würde nie ins Bett gehen, ohne vorher klar Schiff gemacht zu haben, und wenn wir unseren Teil zur Hausarbeit nicht beitrugen, konntemeine Mutter ziemlich ungemütlich werden. Heute überraschte sie mich.
»Ich mach das schon«, sagte sie. »Ich leg dir die Sachen vor die Tür, okay?«
»Danke.« Ich gab Janne einen Kuss und nickte Spatz zu, die sich wieder dem Studium ihrer Videokassetten gewidmet hatte. Gerade hielt sie ein Video mit der Aufschrift Orfeo Negro in der Hand. »Ein wunderbarer Film«, murmelte sie. »Wir müssen wirklich einen Rekorder anschaffen. Videos haben so etwas
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