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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Schere, Stein, Papier
    D ie Fensterläden waren vorgelegt, das Fenster stand offen. Ein Radio lief, kaum hörbar, die grünen Lichtpunkte des Monitors flimmerten im Halbdunkel. Sonst brannte kein Licht. Tagsüber drang ein Widerschein der roten Farbe, mit der die Fensterläden gestrichen waren, ins Zimmer. Einer der Fensterflügel war durch ein Buch festgehalten, das zwischen Rahmen und Kante klemmte. Der andere Flügel schwang auf und wieder zurück, wenn ein Windstoß an den Fensterläden rüttelte. Früh am Morgen hörte man, wie der Berufsverkehr auf dem Autobahnzubringer einsetzte, ein gleichmäßiges Rauschen, das erst am späten Abend wieder abebbte.
    Oben an der Kante der Fensterlaibung schlossen die Läden nicht ganz, so dass bei Sonnenschein ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer fiel. Er zeigte sich, wenn die Sonne über den Michelsberg hochgestiegen war, und wanderte dann allmählich durch das Zimmer nach links. Am späten Vormittag erreichte er den Schreibtisch und die Fotografie, die dort in einem Holzrahmen aufgestellt war, so dass das Bild einen trapezförmigen Schatten auf das helle Eschenholz der Schreibtischplatte warf. Am frühen Nachmittag berührte der Lichtstreifen das Tastentelefon, auf dem seit einem Samstagnachmittag im Juni das rote Signal des Anrufbeantworters blinkte. Zuletzt fiel das Licht auf ein halbhohes Gebilde aus Kabeln und Drähten, das einen Autoscheinwerfer trug wie ein einzelnes herausgerissenes Auge.
    Es war ein heißer Sommer, und im Juli gab es einige heftigeGewitter. Bei einem hatte sich der rechte Fensterflügel aus seiner provisorischen Verankerung gerissen. Das Buch, das man dazu benützt hatte, lag seither aufgeblättert auf dem Boden. Damals war auch die Fotografie umgestürzt, und aus der obersten Ablage waren einzelne Blätter ins Zimmer gewirbelt worden. Im August erschien der Lichtstreifen etwas später und wanderte tiefer ins Zimmer hinein, so dass er auch die Hand erreichte, die auf der Schreibtischplatte lag und bei der die Fingernägel inzwischen deutlich aus dem Nagelbett hervorgetreten waren. Es sah aus, als seien sie gewachsen, aber es ist ein Volksmärchen, dass sie das tun.
    Nach dem Anruf im Juni hatte das Telefon noch einige Male geläutet, aber niemand hatte mehr auf den Anrufbeantworter gesprochen. Im Juli hatte es einmal an der Wohnungstür geklingelt, es waren Adventisten auf Hausmission. Einige Tage später hatten zwei Schulmädchen, die auf dem Sperrmüll eine verrostete Spendenbüchse des Roten Kreuzes gefunden hatten und damit die Wohnblocks abklapperten, Sturm geläutet. Danach blieb es lange ruhig, bis Anfang September der Türke Murad Inönü, der im Erdgeschoss eine Änderungsschneiderei betrieb, klingelte. Er wartete eine Weile vor der Wohnungstür, dann stieg er wieder die Treppen hinunter und rief nach seiner zwölfjährigen Tochter Fatima, die ihm auch sonst seine Briefe aufsetzte, wenn die Gewerbeaufsicht etwas von ihm wollte oder die Berufsgenossenschaft.
     
    D er Oktober war warm und sonnig. In der zweiten Monatshälfte setzte Föhn ein, im Süden sah man die Alpen als blassblaues, gezacktes Band. In der neuen Naturbau-Siedlung Eschental überlegte Harald Treutlein, ob er später das Rennrad nehmen und eine Zwanzig-Kilometer-Runde übers Hochsträß und durch das Blautal zurück drehen sollte, so viele schöne Tage würde es nicht mehr geben. Einstweilen hatte er noch immer den orange-farbenen Anorak in der Hand, den Johannesauf gar keinen Fall anziehen wollte, während Mona – bereits für das Rad eingepackt – das wohlerzogene Gesicht aufsetzte, mit dem sie den Kraftproben zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater zusah.
    »Wenn du den Anorak nicht anziehst und krank wirst, können wir heute Nachmittag nicht ins Hölzle.«
    Im Hölzle hatte die Elterninitiative einen Abenteuerspielplatz angelegt, aber das Argument war trotzdem schwach, weil man niemandem, auch keinem fünfjährigen Kind, einen Zusammenhang zwischen dem Anorak am Morgen und dem Spielplatz am Nachmittag einreden kann.
    »Wir verhandeln hier erst gar nicht«, ertönte von oben die energische und ein wenig scharfe Stimme von Isolde. Dann kamen ihre Füße, die in gut gearbeiteten Lederstiefeletten steckten, die Treppe herab, und gleich darauf die ganze Person, die klein und kompakt war, Aktentasche in der einen, Autoschlüssel in der anderen Hand.
    Mit Isoldes Auftreten war der Fall entschieden. Johannes schlüpfte gehorsam in seinen Anorak, Mona zog enttäuscht eine

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