Lucian
siehst aus wie ausgekotzt.«
»Danke, ich liebe dich auch.«
Ich kramte mein Schreibzeug aus der Schultasche. Das Klassenzimmer füllte sich. Als Sebastian an meinem Tisch vorbeikam, klingelte es.
»Hi Zombie, schöne Ladys Night gehabt?«, fragte mein Exfreund im Vorbeigehen. Die spöttische Art, mit der mich Sebastian in den letzten Wochen behandelte, löste normalerweise ein schlechtes Gewissen bei mir aus. Aber heute machte sie mich wütend.
»Leck mich«, knurrte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»What an interesting remark, Miss Wolf.« Tyger schlug das Klassenbuch auf. »Ich muss diesen Ausdruck unbedingt festhalten, damit er für die Nachwelt erhalten bleibt.« Er zückte seinen silbernen Stift. »Rebecca Wolff leitet die heutige Englischstunde mit den Worten Leck mich ein.« Tygers helle Augen fixierten mich. »Was heißt Leck mich auf Englisch, Rebecca?«
Kiss my ass, dachte ich und bemühte mich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.
» Eat my shorts«, kam es von hinten. Sebastians Stimme. Er hatte fünf Jahre bei seiner Mutter in London gelebt, bevor er zu seinem deutschen Vater nach Hamburg gezogen war. »Oder auch sod you oder bugger me . . .«
»Lovely, Sebastian, that should be enough for now«, entgegneteTyger mit seinem perfekten oxfordenglischen Akzent und nickte Sebastian wohlwollend zu.
»Amerikanisches Englisch«, fuhr er mit einem gehässigen Seitenblick auf mich fort, »unterscheidet sich vom echten britischen Englisch hauptsächlich in der Aussprache und im Wortschatz. Diese feine Differenz zieht sich bis in die Vulgärsprache hinein. So bevorzugen die Amerikaner auch hier die simple Ausdrucksweise oder haben verschiedene Redensarten des britischen Englisch erst gar nicht in ihr Vokabular aufgenommen – wie etwa das literarisch fantasievolle eat my shorts im Gegensatz zu einem banalen kiss my ass .«
In meinem Rücken hörte ich Sebastians leises Lachen.
Tygers Blick blieb an mir hängen, während Suse ihre Hand in meinen Oberschenkel krallte. Der Schmerz lenkte mich von meiner Wut ab. Ich überlegte, ob ich Tyger darüber aufklären sollte, dass Sebastian die Redewendung eat my shorts unter Garantie nicht aus England, sondern aus der USamerikanischen Serie Die Simpsons kannte, aber ich ließ es bleiben.
»Wenden wir uns dem eigentlichen Thema der Stunde zu.«
Tyger zog an der goldenen Kette und ließ seine Taschenuhr aufschnappen. Wie jedes Mal wenn er sie ansah, zuckte es um sein linkes Auge.
»Ich habe eine neue Kurzgeschichte von Ambrose Lovell für euch ausgewählt«, verkündete er. »Eins seiner frühsten Werke. Sheila, wenn du mir freundlicherweise zur Hand gehen würdest – vorausgesetzt, du kannst in deinen Stiefeln laufen?« Tyger hielt Sheila einen Stapel Papier entgegen. Diesmal zuckte es um seine Mundwinkel.
Neben mir unterdrückte Suse ein Prusten und ich entspannte mich. Neues Opfer, neues Glück, schoss es mir durch den Kopf. Aber im Fall von Sheila Hameni hatte Tyger mein vollstes Verständnis. Als Sheila auf den Pfennigabsätzen ihrer weißen Stiefel durch das Klassenzimmerstakste, um die Blätter zu verteilen, sah sie aus wie ein misshandeltes Huhn auf Stelzen, aber das hielt sie nicht davon ab, mit ihrem winzigen Hintern zu wackeln.
Suse hielt sich die Kurzgeschichte vors Gesicht. »Erinnere mich bitte daran, dass ich der neuen Gruppe in Schüler-VZ beitrete: »Ich habe keine Vorurteile. Aber die hat weiße Stiefel an.«
Ich presste die Lippen zusammen, um nicht loszulachen, und fixierte mein Blatt. The Bell in the Fog, von Ambrose Lovell. Suffolk, England 1889–1950.
Bevor Tyger unsere Klasse in Englisch übernahm, hatte ich noch nie von diesem Schriftsteller gehört, aber mittlerweile kannte ich viel von ihm. Tyger schien sein gesamtes Werk zu besitzen, inklusive des Manuskripts von Lovells einzigem unvollendetem Roman, aus dem er uns irgendwann einmal eine winzige Kostprobe gegeben hatte. Meistens allerdings las er uns aus den Kurzgeschichten des Schriftstellers vor.
Wenn ich ehrlich war, gehörten diese Stunden zu meinen liebsten. Tyger hatte eine wundervolle Erzählerstimme, rau, tief und von einer genüsslichen Langsamkeit. Heute bat er jedoch Sebastian vorzulesen und forderte uns auf, alle unbekannten Vokabeln zu markieren und für die nächste Stunde auswendig zu lernen.
Lovells Erzählung handelte von einem englischen Lord, der sich bei Nacht und Nebel in einem einsamen Moor verlief und plötzlich ein seltsames Klingeln hörte.
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