Lucie und der erste Schultag
wilde Stimme mehr hinter sich hören.
Lucies Wangen sind fast so rot wie ihr Regenmantel. Sie schnauft, nimmt den Feuerwehrhelm ab und fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Puh « , japst sie außer Atem. Aber dann grinst sie mehr als zufrieden. »Dem blöden Alexande r h aben wir es aber wirklich gezeigt! Nicht wahr? «
»Oh ja! « Keuchend fährt Emil sich durch seine Haare, die nun wie Igelstacheln abstehen. Seine Knie sind von der wilden Flucht noch ganz zittrig, noch nie in seinem ganzen Leben ist er so rasant Fahrrad gefahren. Aber, Emil ist sehr zufrieden, die ganze Zeit nur auf dem Bürgersteig, so wie er es seinen Eltern versprochen hat. Emil hebt sein Vorderrad hoch in die Luft. So wie echte Rennfahrer das machen. Noch nie hat er sich so stark gefühlt. »Lucie, das machen wir mal öfter « , ruft er und fühlt sich fast so groß wie der große Alexander.
»Ja « , nickt Lucie. »Weißt du was, Emil, das werden wir so oft machen, dass wir wirklich keine Zeit für die Schule haben. « Sie blickt sich um. Wo sind sie hier eigentlich? Die Häuser sehen aus wie in ihrer Straße. Aber Lucie weiß, dass das nie und nimmer ihre Straße ist, weil sie ja ein ganzes Stück mit den Fahrrädern geflüchtet sind. Auf einmal macht ihr etwas Sorgen. »Weißt du, wo es nach Hause geht? « , fragt sie Emil, und ihre Stimme klingt ängstlich. Ganz anders als sonst.
Emil nickt. »Das ist doch pupsleicht « , verkündet er und steigt auf sein Rad. »Du musst mir nur nachfahren. « Immer noch fühlt sich Emil fast so groß wie der große Alexander. Stolz fährt er voran, während ihm Lucie hinterherfährt. Aber auf einmal bekommt Emil einen Schreck und der ist ganz schrecklich. Alles sieht so ähnlich aus, er weiß gar nicht mehr, wo genau sie eben abgebogen sind. Emil blickt auf die Straßenschilder, kann aber nicht lesen, was dort steht.
»Super, schau, da ist ja mein Haus « , ruft Lucie fröhlich und zeigt auf die andere Straßenseite. Wirklich, da ist ein Haus mit blauen Blumen im Vorgarten und einem blauen Briefkasten. Sie schaut nach links und nach rechts, und als kein Auto kommt, flitzt sie über die Straße. Doch vor dem Haus bleibt Lucie wie erstarrt stehen. Da sitzt ein fremdes, kleines – so ein richtig kleines, mit dickem Windelpopo! – Kind auf ihrem Bobbycar und guckt sie neugierig an. Was macht das Kind denn da? Das kennt sie ja gar nicht.
Lucie läuft zur Tür, um Papa zu sagen, dass da ein fremdes Kind im Vorgarten auf ihrem Bobbycar ist … doch da geht die Haustür auf. Eine fremde Frau kommt heraus. Lucie spürt , d ass alles in ihr ganz still wird. Furchtbar still.
»Hallo « , sagt die fremde Frau freundlich zu Lucie. »Suchst du jemanden? «
Erst zittert Lucies Kinn, dann lässt sie ihr Fahrrad auf den Bürgersteig fallen, denn jetzt braucht sie beide Hände. Sie schlägt ihre Hände vor die Augen und schluchzt: »Woooo i-iiiiiist meeeeein Zuuuuuuu-zuuuuuuuhause? « Dann fließen die Tränen. Sie laufen über, wie letztens das Waschbecken im Kindergarten, in dessen Ablauf Lucie eine Socke gestopft hat. Kathi, ihre Erzieherin, hat das Wasser abgedreht. Doch jetzt kann nichts und niemand Lucies Tränen aufhalten.
Als Emil sieht, dass die sonst so mutige Lucie so schluchzt und weint, laufen ihm auch die Tränen übers Gesicht.
»Aber, aber « , stammelt die Frau ratlos, während das kleine Kind auf dem roten Bobbycar auch losheult. Sie nimmt das Kleine auf den Arm, streicht Lucie und Emil über die Schultern und sagt immer wieder: »Es wird alles wieder gut. « Und als die beiden die Tränen weggewischt haben und wieder ruhig atmen können, da fragt die Frau: »Wo ist denn euer Zuhause? «
Verloren gegangen
Aber Lucie presst die Lippen aufeinander und sagt keinen Mucks. »Sprich nicht mit Fremden«, haben ihr Mama und Papa immer gesagt. Sie kennt die Frau nicht, also ist die Frau fremd. Aber ein schrecklicher Gedanke geht Lucie durch den Kopf. Wer soll ihnen dann helfen, wenn sie nichts sagen dürfen? Und Hilfe brauchen sie jetzt unbedingt. Das weiß Lucie genau.
Emil sieht Lucie unsicher an und fasst ihre Hand. Er weiß gar nicht, was er jetzt machen soll. Ob seine Mama ihn sehr vermissen wird, wenn er heute Abend nicht zu Hause ist? Wenn sie kein Kind mehr hat, das sie ins Bett bringen und dem sie einen Gute-Nacht-Kuss geben kann? Dann weint Mama bestimmt und Papa auch. Bestimmt werden seine Eltern allen sein verlassenes Zimmer zeigen und traurig sagen: »Seht, da hat unser Emil
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