Lucy in the Sky
an der Steinbrüstung lehnt, in seiner beigefarbenen Kordhose und der schwarzen Jacke, die aufgeknöpft ist, sodass man das graue Kapuzenshirt darunter sehen kann.
»Ich hab immer noch deinen Zettel«, sagt er plötzlich.
»Was denn für einen Zettel?«, erkundige ich mich verwirrt.
»Den du mir geschrieben hast, am ersten Tag, als ich hier angekommen bin.«
Er zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche und holt die Quittung vom Café Rouge heraus. Die Nachricht ist unterschrieben mit:
»Alles Liebe, Lucy xxx.«
Kaum zu glauben, dass er sie die ganze Zeit über aufgehoben hat.
»Sonst habe ich nichts Persönliches von dir«, erklärt er schüchtern. »Weißt du, wie erleichtert ich war, als ich endlich die Hochzeitsfotos gesehen habe?«
»Ich auch!«, rufe ich. »Ich war total verzweifelt, als mir klar wurde, dass ich kein einziges Foto von dir habe.« Er steckt sein Portemonnaie zurück in seine Tasche und lächelt mich an.
Mein Blick fällt auf die dunklen Stoppeln an seinem Kinn, auf seinen sexy Mund, seine Lippen. Gott, diese Lippen … Dann sehe ich ihm wieder in die Augen, und er legt seine Hände um meine Taille und zieht mich an sich.
Zuerst küsst er mich ganz langsam, aber dann immer leidenschaftlicher. Ich lasse meine Hände unter sein Sweatshirt gleiten, und er zuckt kurz zusammen, weil sie so kalt sind. Ich glaube, ich habe noch nie etwas so sehr gewollt, wie ich ihn jetzt will.
»Ich liebe dich«, haucht er.
»Was hast du gesagt?«, frage ich. Natürlich habe ich ihn genau verstanden. Aber ich möchte es so gern noch einmal hören. »Ich liebe dich«, wiederholt er und küsst mich sanft auf die Lippen.
»Ich liebe dich auch«, erwidere ich, mein Herz quillt über vor Glück, und ich fange an zu lachen.
»Was?«, fragt er, ebenfalls lachend.
»Ich liebe dich einfach so sehr. Und ich kann nicht glauben, dass du mich liebst.«
»Tja, tu ich aber«, lacht er und zieht mich erneut zu sich.
Dann nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst mich wieder, aber es geht nicht, weil ich einfach nicht aufhören kann zu lachen.
»Du erinnerst mich an meine Mum, weißt du.«
»An deine Mum? Wie das?«, frage ich völlig verdutzt.
»Dein Lachen. Du lachst genau wie sie. Du hast den gleichen Humor.«
Ich sehe ihn an. Es ist das schönste Kompliment, das mir jemals gemacht wurde.
»Hey, ist das Bambus?«, fragt er plötzlich.
Ich folge seinem Blick zu dem Busch am Flussufer. Es ist natürlich nicht die gleiche Bambusart wie in Sydney auf der Hochzeit. Dieser hier ist viel kleiner und dichter. Ein schmaler dunkler Pfad führt zu ihm hinunter, und dort stehen wir eine Weile, umgeben von Bambus, in der Dunkelheit.
»Erinnerst du dich an diesen Tag?«, frage ich ihn. »Im Botanischen Garten?«
»Wie könnte ich den vergessen?«
»Ich wollte dich so gerne küssen … «
»Ich wollte dich auch küssen«, antwortet er. »Aber ich konnte nicht. Ich wollte nicht der andere Mann sein.«
»Ich weiß«, sage ich und schlinge meine Arme um seine Taille. »Aber jetzt bist du nicht mehr der andere Mann.«
»Nein, jetzt bin ich der Mann«, sagt er scherzhaft, und ich lache, bis er mich wieder küsst. Hier unter dem Bambus ist es so dunkel und abgeschirmt, dass ich das Gefühl habe, unsichtbar zu sein. Als könnte niemand uns hier je finden. Aber da nehme ich aus dem Augenwinkel auf einmal eine Bewegung wahr.
»Schau mal«, flüstere ich.
»Ist das … Schnee?«, fragt er staunend.
Das ist so idyllisch, dass es schon fast lächerlich wirkt. Nathan und ich gehen den Weg zur Brücke zurück, und er blickt hinauf zum Himmel, während dicke, weiße Schneeflocken auf sein Gesicht fallen.
»Ich hab noch nie Schnee gesehen!«, ruft er atemlos, und eine überwältigende Liebe durchströmt mich. Dieser Mann ist einfach wundervoll.
»Komm, lass uns heimgehen, einen heißen Kakao trinken und dabei aus dem Fenster sehen«, rufe ich lachend.
An diesem Abend spielen wir mit der ganzen Familie im Wohnzimmer Pictionary. Großartigerweise gewinnen Nathan und ich haushoch. Meine Stiefbrüder sind überzeugt davon, dass wir schummeln, denn ich bin, was das Zeichnen angeht, absolut unbegabt. Aber irgendwie scheint Nathan sofort zu ahnen, dass beispielsweise ein runder Klecks mit Strichen unten dran ein Pferd sein soll. Er andererseits stellt sich als wahres Zeichentalent heraus. Allgemeinbildung kann sich doch jeder aneignen – aber Talent? Das hat man – oder eben nicht.
Schließlich machen die anderen sich langsam
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