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Lucy Sullivan wird heiraten

Lucy Sullivan wird heiraten

Titel: Lucy Sullivan wird heiraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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Alison.
    »Weil mein Dad keine Arbeit kriegen konnte«, erklärte ich eifrig. »Wissen Sie, er hatte keinen Abschluß, weil er mit vierzehn von der Schule mußte, um nach dem Tod seines Vaters für seine Mutter zu sorgen.«
    »Aha«, sagte sie.
    Dad machte gewöhnlich sehr viel mehr Worte über seine Arbeitslosigkeit, aber ich zögerte, Alison in Einzelheiten mitzuteilen, was er zu sagen pflegte.
    In einer der deutlichsten Erinnerungen meiner Kindheit sehe ich ihn am Küchentisch sitzen und hitzig die Fehler des Systems erläutern. Er sagte mir immer, daß ein Ire in England, wenn es um einen Arbeitsplatz geht, grundsätzlich »der Dumme« sei und es sich bei Seamus O’Hanlaoin und Michael O’Herlihy und all den anderen um nichts anderes handele als um einen Haufen »Speichellecker und Arschkriecher«, weil sie sich bei ihren englischen Chefs lieb Kind machten. Man müsse nur mal hören, was sie hinter ihrem Rücken über die sagten. Sicher, Seamus O’Hanlaoin und Michael O’Herlihy und all die anderen hatten Arbeit, aber er, Jamsie Sullivan, hatte sich seine Würde bewahrt. Das muß ihm ausgesprochen wichtig gewesen sein, denn er sagte es oft.
    Besonders oft hatte er es gesagt, als Saidbh O’Herlihy und Siobhán O’Hanlaoin auf Klassenreise nach Schottland mitdurften und ich nicht.
    Das wollte ich Alison aber nicht erzählen, weil ich fürchtete, sie damit zu kränken, für den Fall, daß sie die Ausdrücke persönlich nahm, mit denen er seine potentiellen englischen Arbeitgeber in Bausch und Bogen verurteilt hatte.
    Gerade fing ich an, ihr von all den Arbeitsstellen zu berichten, um die sich mein Vater vergeblich bemüht hatte, als sie mich in meinen Erinnerungen unterbrach. »Wir müssen es für diese Woche dabei bewenden lassen.« Sie stand auf.
    »Ach, ist die Stunde schon um?« fragte ich, von der Plötzlichkeit erschüttert, mit der die Sitzung endete.
    »Ja«, sagte Alison.
    Eine Welle ängstlichen Schuldgefühls stieg in mir auf. Ich hoffte, daß ich mit meinen Enthüllungen meinem Vater nicht in den Rücken gefallen war.
    »Wissen Sie, ich möchte nicht, daß Sie denken, mein Vater wäre nicht nett gewesen oder so«, sagte ich verzweifelt. »Er ist großartig, und ich hab ihn wirklich gern.«
    Alison schenkte mir ihr Mona-Lisa-Lächeln, wie immer, wenn sie nichts preisgeben wollte, und sagte: »Bis nächste Woche, Lucy.«
    »Ehrlich, er ist großartig«, beharrte ich.
    »Ja, Lucy«, lächelte sie undurchdringlich. »Bis nächste Woche.«
    In der folgenden Woche war es noch schlimmer. Irgendwie holte Alison die Sache aus mir heraus, daß ich nicht mit auf die Klassenreise nach Schottland gekonnt hatte.
    »Hat es Ihnen nichts ausgemacht?« wollte sie wissen.
    »Nein«, sagte ich.
    »Haben Sie keine Wut auf Ihren Vater gehabt?« fragte sie.
    »Nein«, sagte ich erneut.
    »Aber warum nicht?« Das klang ziemlich verzweifelt – es war das erste Mal, daß ich bei ihr eine Art Gefühlsregung wahrgenommen hatte.
    »Weil ich ihm nicht böse war«, sagte ich einfach.
    »Was hat Ihr Vater getan, als sich herausstellte, daß Sie nicht mitreisen konnten?« fragte sie. »Wissen Sie das noch?«
    »Natürlich«, sagte ich überrascht. »Er hat gesagt, daß er ein reines Gewissen habe.«
    Tatsächlich sagte Dad häufig »Mein Gewissen ist rein.« Auch sagte er oft »Ich kann nachts ruhig schlafen.« Das stimmte. Oft schlief er schon ruhig, bevor er überhaupt ins Bett gegangen war – meist dann, wenn er getrunken hatte.
    Irgendwie brachte mich Alison dazu, auch das alles zu erzählen.
    »Berichten Sie mir über die Abende, an denen er... äh... getrunken hatte«, forderte sie mich auf.
    »Ach, es klingt so abscheulich, wie Sie das sagen«, beklagte ich mich. »Das war es aber gar nicht, sondern eher ziemlich nett. Er hat dann ein bißchen gesungen und ein bißchen geheult.«
    Alison sah mich wortlos an. Um das Schweigen zu überbrücken, platzte ich heraus: »Es war aber gar nicht traurig, wenn er geheult hat, weil ich wußte, daß er es auf sonderbare Weise genoß, traurig zu sein. Verstehen Sie, was ich meine?« – Offenbar verstand sie es nicht.
    »Wir sprechen nächste Woche darüber«, sagte sie. »Unsere Stunde ist um.«
    Wir sprachen aber in der kommenden Woche nicht darüber, weil ich nie wieder hingegangen bin.
    Ich hatte den Eindruck, daß mich Alison zu gemeinen Aussagen über meinen Vater manipuliert hatte und litt deswegen unter einem entsetzlich schlechten Gewissen. Außerdem war ich depressiv und

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