Lucy Sullivan wird heiraten
was mir einfiel, war, daß sie vielleicht hatte sagen wollen, ich müsse mir von einem Spezialisten helfen lassen und zu irgendeinem Therapeuten, Berater oder Psycho-Sonstwas gehen. Der Haken daran war, daß ich etwa ein Jahr zuvor bei einer Art Therapeutin gewesen war, was sich als vollständige Zeitverschwendung herausgestellt hatte.
6
S ie hieß Alison, und ich ging eine Weile einmal pro Woche zu ihr. Wir setzten uns in einen spärlich möblierten ruhigen kleinen Raum und versuchten dahinterzukommen, was mit mir nicht stimmte.
Zwar hatten wir allerlei interessante Sachen entdeckt – wie beispielsweise, daß ich immer noch auf Adrienne Cawley böse war, weil sie zur Feier meines sechsten Geburtstags ein Spiel mitgebracht hatte, auf dessen Schachtel stand, daß es sich für Zwei- bis Fünfjährige eignete –, doch darüber hinaus schien ich über mich nicht mehr in Erfahrung gebracht zu haben, als was ich in so mancher schlaflosen Nacht schon selbst herausbekommen hatte.
Natürlich machten Alison und ich uns unter dem Stichwort »cherchez la famille« als erstes auf die psychotherapeutische Hexenjagd. Der Sinn der Übung bestand darin, die Verantwortung für all das, was mit meiner ramponierten Psyche nicht in Ordnung war, auf meine Angehörigen abzuwälzen.
Aber wir fanden in meiner Familie nichts Ungewöhnliches, es sei denn, man betrachtet Normalität als ungewöhnlich.
Ich hatte eine völlig normale Beziehung zu meinen beiden Brüdern Chris und Peter – das heißt, als kleines Mädchen hatte ich sie gehaßt, und sie hatten mir das auf die bei Brüdern übliche Weise vergolten, indem sie mir das Leben zur Hölle gemacht hatten. Sie hatten mich einkaufen geschickt, wenn ich keine Lust dazu hatte, den Fernseher mit Beschlag belegt, mein Spielzeug kaputtgemacht, in mein Hausaufgabenheft gekritzelt, mir weisgemacht, ich sei ein adoptiertes Kind und meine wirklichen Eltern säßen wegen Bankraubs hinter Gittern. Dann hatten sie das als dummen Witz hingestellt und behauptet, meine richtige Mutter sei eine Hexe. Wenn Mum und Dad in eine Kneipe gegangen waren, um etwas zu trinken, hatten sie mir vorgeflunkert, sie hätten sich in Wahrheit aus dem Staub gemacht und würden nie wiederkommen und ich käme ins Waisenhaus, wo es Prügel und angebrannten Grießbrei mit kaltem Tee gäbe. Es waren die unter Geschwistern üblichen Hänseleien.
All das berichtete ich Alison. Als ich darauf zu sprechen kam, daß Mum und Dad gelegentlich in eine Kneipe gegangen waren, stürzte sie sich begeistert darauf.
»Berichten Sie mir über die Trinkgewohnheiten Ihrer Eltern«, sagte sie und lehnte sich in Erwartung der bevorstehenden Enthüllungen behaglich zurück.
»Da kann ich Ihnen eigentlich nichts sagen«, sagte ich. »Meine Mutter trinkt nicht.« Alison wirkte enttäuscht.
»Aber Ihr Vater?« fragte sie hoffnungsvoll. Noch war nicht alles verloren.
»Der schon«, sagte ich. Sie war begeistert!
»Ach ja?« sagte sie mit ihrer besonders sanften Stimme. »Wollen Sie darüber reden?«
»Da gibt es nichts zu reden«, sagte ich verwirrt. »Wenn ich sage, daß er trinkt, ist das eigentlich nichts Besonderes.«
»Hm«, nickte sie wissend. »Und was meinen Sie mit ›nichts Besonderes‹?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vielleicht ist es was Besonderes, wenn jemand Säufer ist. Er ist aber keiner.« Sie sagte nichts.
»Wirklich nicht.« Ich lachte. »Tut mir leid, Alison. Ich würde Ihnen gern erzählen, daß mein Vater meine ganze Kindheit hindurch betrunken war, wir nie Geld hatten, er uns verprügelt und angebrüllt hat, mit mir ins Bett gehen wollte und meiner Mutter gesagt hat, daß es besser gewesen wäre, er hätte sie nicht geheiratet.«
Alison stimmte nicht in mein Gelächter ein, so daß ich mir ein wenig blöd vorkam.
»Hat er Ihrer Mutter gesagt, daß er sie besser nicht geheiratet hätte?« fragte sie leise und würdevoll.
»Nein!« sagte ich verlegen.
»Nein?« fragte Alison.
»Jedenfalls ganz selten«, gab ich zu. »Nur wenn er betrunken war. Das kam so gut wie nie vor.«
»Und hatten Sie den Eindruck, daß Ihre Familie nie genug Geld hatte?« fragte sie.
»Wir waren nie knapp bei Kasse«, sagte ich steif.
»Gut«, sagte Alison.
»Ganz stimmt das nicht«, mußte ich einräumen. »Es ist bei uns immer knapp hergegangen, aber das lag nicht daran, daß Dad getrunken hätte, sondern einfach daran, daß wir... nun, daß wir nicht viel Geld hatten.«
»Und warum hatten Sie nicht viel Geld?« fragte
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